«Das Leben eines Anderen» wurde als erster Roman von Keiichiro Hirano ins Deutsch übersetzt. © ogata photo/Suhrkamp Verlag

Gestohlene Identitäten und trottende Hunde

Kulturspalte

4. April 2022

Roman — Akira Kido ist skeptisch. Der Scheidungsanwalt lebt mit seiner Familie in der südlich von Tokio gelegenen Grossstadt Yokohama. Eines Tages erhält er einen ungewöhnlichen Anruf seiner ehemaligen Klientin Taniguchi Rie. Von ihr erfährt er, dass Ries verstorbener Ehemann Taniguchi Daisuké das Leben eines anderen gelebt hat. Daraufhin begibt sich Kido auf die Suche nach Daisukés eigentlichen Identität und trifft dabei auf den wahren Daisuké, der sich seit Jahren vor seiner Vergangenheit versteckt.

«Das Leben eines Anderen» ist der erste Roman des Bestsellerautors Keiichiro Hirano, der aus dem Japanischen auf Deutsch übersetzt wurde. Der Autor wurde 1999 mit dem Akutagawa-Preis ausgezeichnet, der bedeutendsten literarischen Ehrung für Autor*innen in Japan. Hirano greift in seinen Werken stets universelle Themen auf wie Selbstliebe, Selbstfindung, Identität und Akzeptanz, von denen auch sein neuester Roman handelt.

Kidos Ehe droht seit Jahren zu zerbrechen und sein Leben scheint ihm festgefahren. Der Gedanke, ebenfalls die Identität eines anderen Menschen anzunehmen, wird für ihn immer verlockender. Auch Rie musste in ihrem Leben schon einige Schicksalsschläge verkraften und fand erst mit dem zweiten Ehemann T. Daisuké ihr Glück wieder. Doch wie kann man sich sicher sein, ob es wirklich Glück war, wenn alles auf einer Lüge beruht? Ihr Sohn wiederum soll den falschen Namen des verstorbenen Stiefvaters ablegen, und fühlt sich dadurch seiner Identität beraubt. Hiranos Charaktere sind selbstreflektiert. Sie finden sich oft in Gedankenschleifen wieder, die lebendig und bildhaft beschrieben werden. Jede der Figuren hat ihre eigenen, existenziellen Fragen, für die sie bis zum Schluss Antworten sucht.

Die langen Kapitel sind dem Erzähltempo geschuldet, das wesentlich langsamer voranschreitet als die Zeit in der Geschichte. Dadurch wird das ruhige Nebeneinanderleben der Figuren betont. Durch die japanische Erzählweise kommen den Leser*innen der deutschen Übersetzung einige Vergleiche sicherlich ungewöhnlich vor. Beschreibungen wie: «(…) doch bei dem großen Unglück, das einen angeblich nur einmal heimsucht, verhält es sich so wie mit dem streunenden Hund, der stur immer weiter derselben Person hinterhertrottet (…)», findet man unter deutschsprachigen Autor*innen selten. Doch gerade diese ungewöhnlichen Vergleiche können narratologisch interessant sein, um einen Einblick in die japanische Sprache zu bekommen. Ein Glossar für schwierig zu übersetzende japanische Redewendungen oder Wörter wäre an manchen Stellen jedoch hilfreich gewesen.

Der Roman birgt etliche lesenswerte, identitätsphilosophische Ansätze in sich. Auffällig ist jedoch, dass die philosophischen Überlegungen der Figuren eher wie Appelle an die Leser*innen wirken, statt natürlich zu den Charakteren zu passen. Obwohl Hiranos Roman für eine Detektivgeschichte an manchen Stellen zu ruhig wird und man als Leser*in über mehrere Kapitel gespannt darauf wartet, dass die Handlung wieder an Fahrt gewinnt, gibt «Das Leben eines Anderen» einen authentischen Einblick in die japanische Gegenwartsliteratur.

«Das Leben eines Anderen» von Keiichirō Hirano erscheint am 11. April 2022 beim Suhrkamp Verlag.