Vorlesungsfolie sorgt für Rassismusvorwürfe an der ETH
Studierende wehren sich gegen eine als rassistisch wahrgenommene Folie. Ein Professor erhält Morddrohungen. Was ist passiert?
Am ersten Montag im neuen Frühlingssemester kommt es nach einer Vorlesung an der ETH zu einem Eklat: Eine Vorlesungsfolie des Professors Dirk Helbing mit dem Titel «The temptation of inappropriate generalizations» listet neben Hühnern, Schweinen, Terrorist*innen, Kriminellen und Arbeitslosen auch «Chinesen» als mögliches Ziel von Big Data Software auf. Daneben sind Schweine im Stroh abgebildet. Für anwesende Studierende chinesischer Herkunft ist diese Darstellung beleidigend: «Den Begriff ‹Chinesen› neben abwertenden Begriffen wie ‹Schweine›, ‹Kriminelle› und ‹Terroristen› aufzulisten, ist unangebracht und anfällig für Missinterpretationen», erklären die Betroffenen später in einem offenen Brief an Helbing.
Nach einer ersten Beschwerde entschuldigt sich Helbing bei den Studierenden und die Beratungsstelle Respekt, zuständig für die Themen Mobbing, Belästigung und Diskriminierung an der Hochschule, distanziert sich im Namen der ETH formell von der Darstellung auf der kritisierten Folie. Damit war der Fall für die ETH und den Dozenten abgeschlossen. Denn tatsächlich wollte Professor Helbing mit der fragwürdig gestalteten Folie vor «unangebrachten Verallgemeinerungen beim Einsatz von Big Data und Softwaresystemen warnen», wie er auf Anfrage erklärt. Er betont, die Folie habe keine rassistische oder diskriminierende Intention gehabt: «Es ging eigentlich um die Notwendigkeit, den Schutz der Menschenwürde im digitalen Zeitalter zu gewährleisten.»
Der Vorfall hat das Fass zum Überlaufen gebracht
Eine Gruppe chinesischer Studierenden fühlt sich von der Entschuldigung des Professors und der Distanzierung der ETH weder gehört noch verstanden. Schnell organisieren sie sich zu einer «Aktionsgruppe». Zwei ihrer Mitglieder, Steven* und Sarah*, erklären ihre Brüskierung: «Weder der Professor noch die ETH haben direkt zugegeben, dass die Folie unsensibel ist. Sie haben sich nur dafür entschuldigt, dass die Folie von einigen Studierenden als beleidigend wahrgenommen wird.»
Die Gruppe chinesischer Studierenden, von denen nicht alle die besagte Vorlesung besuchen, verfasste darauf offene Briefe an die ETH und an Professor Helbing. Auf einer eigens für den Vorfall aufgesetzten Website dokumentieren sie chronologisch, was geschehen ist. Über 800 Menschen unterschreiben die offenen Briefe, in denen unter anderem eine direkte Entschuldigung für die «racially insensitive» Folie und eine offene Aussprache mit den betroffenen Studierenden gefordert werden. In diesem Zusammenhang erhielt Helbing auch Morddrohungen und die NZZ titelte «Cancel Culture an der ETH» und schrieb von einer «grotesken Eigendynamik» der Aufregung. Doch erklärt dieser Vorfall in der Vorlesung wirklich den grossen Aufschrei der Studierenden?
Studierende fühlen sich gehört, kritisieren aber das Vorgehen der ETH
Die überraschend hohe Zahl an Unterstützer*innen zeigt, dass dieser Vorfall wohl nur das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Denn an der ETH gab es in der Vergangenheit mehrfach rassistische Vorfälle gegenüber asiatisch gelesenen Personen. Zum Beispiel sprayten 2018 Unbekannte «No Asians» an den Lift des Student Village am Hönggerberg. Besonders zu Beginn der Pandemie nahmen rassistische Anfeindungen gegen asiatisch gelesene Personen in unserer Gesellschaft zu. Steven und Sarah erzählen: «Ein Student musste sich von einem Professor anhören lassen, er solle nicht ‹wie ein Chinese› denken. Ein anderer Dozent weigerte sich, den Computer einer chinesischen Studentin anzufassen, während er den eines europäischen Studenten benutzte.» Steven und Sarah wünschen sich mehr Bewusstsein dafür, was solche Handlungen beim Gegenüber auslösen. Denn sie sind sich sicher: «Hätte Dirk Helbing von diesen vergangenen Ereignissen gewusst, dann wäre er sensibler gewesen und hätte sich für eine andere Darstellung auf seiner Folie entschieden. Dieser Vorfall hätte vermieden werden können.»
Dirk Helbing hat sich auf den offenen Brief postwendend ein zweites Mal via Twitter entschuldigt. Mittlerweile hat die Gruppe chinesischer Studierenden die Entschuldigung akzeptiert. Das Rektorat reagiert Anteil nehmend auf den offenen Brief und lädt die Unterzeichner*innen zu einem persönlichen Austausch zum erlebten Alltagsrassismus an der ETH ein. Obwohl die chinesischen Studis sich jetzt gehört fühlen, kritisieren sie das generelle Vorgehen der ETH: «Die Exekutive der ETH denkt, dass Konfliktlösung immer nur ein persönlicher Austausch zwischen den Beteiligten sein soll. Wir wollen aber, dass Fälle wie dieser öffentlich gemacht werden, um ein Bewusstsein für das Problem zu schaffen.»
Auch Professor Helbing sieht Handlungsbedarf
Auf Anfrage der ZS zieht Dirk Helbing für sich folgende Schlüsse aus dem Vorfall: «Die von vielen als ‹racial insensitive› empfundene Folie habe ich umgehend abgeändert. In Zukunft muss noch stärker als bisher darauf geachtet werden, dass mögliche Missverständnisse vermieden werden und die Vorlesungsmaterialien vorab aus diversen Perspektiven zu betrachten.» Er meint weiter: «Inklusive Lehre erfordert es, Hierarchien zwischen Dozierenden und Studierenden zu überwinden und die Perspektiven der Studierenden stärker in den Unterricht einzubeziehen. Wir bemühen uns daher, eine offene, kritische, respektvolle, tolerante, vertrauensvolle und faire Diskussionskultur zu fördern.» Deshalb hätte sich Helbing gewünscht, dass die Studierenden bereits kritische Anmerkungen gemacht hätten, als die Folie gezeigt wurde, damit er sich sofort entschuldigen und die Hintergründe hätte erläutern können.
Für die chinesischen Studis ist klar, dass ein solcher Fehltritt einem Dozenten an der Hochschule auch nicht unbeabsichtigt passieren darf. Wie auch der VSETH infolge der «WiegETHs?»-Befragung, wobei die ETH-Studis um ihr Wohlbefinden befragt wurden, fordern sie obligatorische Sensibilisierungskurse für Dozierende zu Themen wie Mobbing und Diskriminierung, um ähnliche Szenarien in Zukunft vermeiden zu können. Dirk Helbing möchte der Entscheidung der ETH diesbezüglich nicht vorgreifen, aber er ist sich mit den Studis in folgendem Punkt einig: «Ich bin davon überzeugt, dass wir die Zukunftsherausforderungen der Menschheit am besten durch eine respektvolle Zusammenarbeit diverser Kulturen bewältigen können.» Daher glaube er an die Bedeutung des kulturellen Austauschs und des gegenseitigen Respekts: «Die Voraussetzung dafür ist gewachsenes Vertrauen. In einer diversen Welt setzt dies noch mehr gegenseitiges Verständnis und Verständigung voraus. Gerade an den Universitäten sollen Diversität, Toleranz und Respekt gelernt, geübt und gelebt und kulturelle Werte vermittelt werden.»
Die ETH zeigt sich beispielsweise mit der Respekt-Kampagne um ein besseres Klima bemüht. Und der neue ETH-Rektor will Fälle von Mobbing und Diskriminierung verhindern. So erhalten Doktorierende nun spätestens nach dem ersten Jahr eine zweite Betreuungsperson, um ungesunde Abhängigkeiten zu verhindern. Ob die Anstrengungen helfen, die ETH aus den Negativschlagzeilen zu retten, wird sich zeigen.
*Namen geändert