Schauspieler Eric Rohner liest aus dem «Ulysses» Lucas Ackermann

Mit Ulysses durch Zürich irren

Zum 100-jährigen Jubiläum von James Joyceʻ Buch wird zum Lesemarathon geladen. Ein aufwühlender Spaziergang.

1. März 2022

Dass ich vor der richtigen Kirche stehe, erkenne ich an einem Irland-Schal und gespannten Blicken nach oben. Auf dem rechten Grossmünsterturm erscheint eine in Gelb gehüllte Gestalt und breitet die Arme segnend über die erwachende Stadt. Gleichzeitig lesen auf dem Kirchplatz zwei junge Männer einen Dialog, es geht um das letzte Gebet und kotzgrünes Meer. Was für Uneingeweihte wie die irisch-katholische Machtergreifung aussieht, ist in Wahrheit der zweite Posten des «Ulysses»-Lesemarathons. Im Eifer steht dieser einer religiösen Veranstaltung jedoch in nichts nach: Von acht Uhr morgens bis Mitternacht lesen Schauspieler*innen und Laien an diesem Samstag aus dem Jahrhundertwälzer von James Joyce: 16 Kapitel an 14 verschiedenen Orten in der ganzen Stadt.

Die erste und die letzte Lesung des Tages finden dort statt, wo auch die Idee für diese Odysseus-Aufgabe geboren wurde: In den holzgetäfelten Räumen der Augustinergasse 9 hat die James-Joyce-Foundation ihr Hauptquartier. «Wir wollten das Jubiläum der ‹Ulysses›-Veröffentlichung feiern», erklärt Antonia Fritz, Hauptverantwortliche des Anlasses, «und zeigen, wie tief Joyce Zürich durchdrungen hat.» Für die Lesungen wurden nicht nur Orte aus Joyce' Biografie gewählt, sondern auch das fiktive Dublin mit dem realen Zürich verwoben. So erschien am 2. Februar 2022, 100 Jahre nach der «Ulysses»-Veröffentlichung und Joyce' vierzigstem Geburtstag, eine Traueranzeige für einen gewissen Patrick Dignam in der NZZ. Am Samstag darauf, in der Abdankungshalle des Friedhofs Fluntern, wurde das Kapitel vorgelesen, in dem eben jener Herr beerdigt wird. Nur wenige Meter entfernt von dem Grab seines Schöpfers.

Seidenbetuchte Damen

Die Stadtodyssee soll aber mehr sein als ein Insider für Joyceaner*innen: «Die Veranstaltungen sollten vor allem Neugierde wecken», meint Fritz. Dass das gelungen ist, scheint offensichtlich. Eine Dreiviertelstunde vor Lesungsbeginn muss ich mit seidenbetuchten Damen um einen Platz in der Kronenhalle ringen. Die Stimmung unter den Eingelassenen ist vorfreudig, Bekannte aus früheren Lesungen grüssen sich verlegen und wer «Ulysses» gelesen hat, gibt Tipps und Tricks weiter, wie Reiseempfehlungen aus einem fernen Kontinent. Mit meinen Jeans und 22 Jahren falle ich äusserlich etwas aus dem Rahmen. Mit meiner Ehrfurcht und Ahnungslosigkeit passe ich jedoch direkt hinein. Als die Lesung beginnt, gehen die Lacher dominoartig durch den Raum; wer genug Englisch und Joyce versteht, setzt an und die anderen folgen betont laut hinterher. Zum Glück wissen die vier Vorlesenden hervorragend damit umzugehen und unterstreichen die lautmalerische Sprache mit Glockenschlägen und Furzgeräuschen.

Nacherzählen könnte ich die Handlung des vorgelesenen Kapitels nicht, als ich vom Bellevue zum Bürkliplatz eile, um einen Platz in der nächsten Lesung zu ergattern. Aber die Begeisterung der Lesenden und Zuhörenden schwappt langsam auf mich rüber. Gespannt zwänge ich mich auf die Holzbank der MS Etzel, die sich friedlich im rosig schimmernden Zürichsee wiegt. Die Studentin Rahel Huwyler beginnt zu lesen. Mit klarer Stimme erzählt sie von der jungen Gerty MacDowell, die am Strand von Leopold Bloom, dem Protagonisten, beobachtet wird. Wohlwissend, dass er ihr zuschaut, lehnt sie sich immer weiter zurück und zeigt Strumpfband und Selbstbewusstsein. Den Höhepunkt der Szene bilden Feuerwerke, die nicht nur im Roman explodieren – auf dem gegenüberliegenden Steg lassen die Veranstalter*innen rote und grüne Funkenregen niederprasseln. Fünfzig rotwangige Gesichter in einem schwankenden Boot sind völlig in Rahels, Gertys und Joyce' Bann.

70 Jahre anhaltende Begeisterung

Es spricht vielleicht nicht für meinen Intellekt, dass mich ausgerechnet eine Sexszene zur «Ulysses»-Lektüre motiviert – noch dazu, wenn sie laut Internet-Expert*innen im Stil eines billigen Liebesromans geschrieben ist. Aber immerhin bin ich mit meiner Suche nach Erotik in guter Gesellschaft: Als Fritz Senn, Gründer und Direktor der Joyce-Foundation, 1941 den «Ulysses» zum ersten Mal liest, tut er das auch, weil das Buch als besonders «dirty» gilt. «Die Erotik hat mich zwar enttäuscht, aber die Sprache hat mich gepackt», erzählt mir Senn vom Beginn seiner siebzigjährigen Faszination. Nachdem er sich durch «Ulysses» gearbeitet hatte, nahm er sich «Finnegans Wake» vor – Joyce' letzter und experimenteller Roman, neben dem es «Ulysses» tatsächlich schafft, wie Einsteigerlektüre zu wirken. «Und wie das so ist: Wenn man auf etwas abfährt, findet man immer andere.» Was mit Briefwechseln begann, führte zu internationalen Symposien und hörte nicht bei den «reading groups» auf, in denen Senn schon seit Jahrzehnte Anfänger*innen und Wiederholungstäter*innen durch «Ulysses» und «Finnegans Wake» geleitet.

Neugierig geworden sitze auch ich an einem Dienstagabend mit gespitztem Bleistift und Ohren in die «Ulysses»-Gruppe. Exakt 90 Minuten kritzeln wir Senns Kommentare und Erläuterungen in die Seitenränder; erleichtert darüber, dass er auch die Bedeutung von Wörtern wie «parapet» erklärt. Doch als er sein zerfetztes Buch zuschlägt und ich auf das dunkle Pflaster hinaustrete, schwanke ich unter mehr Fragen, als ich mit mir hineingetragen habe.