«Das Problem der Ressourcen ist nicht gelöst, wenn man im Basisjahr mehr Studierende durchfallen lässt.» Sumanie Gächter

«Dass Studis an der ETH übernachten müssen, soll es nicht geben»

Ein Gespräch mit dem neuen ETH-Rektor Günther Dissertori.

28. Februar 2022

Herr Dissertori, Sie sind in einem Dorf im Südtirol aufgewachsen und waren der Erste in Ihrem Umfeld, der studierte und eine akademische Laufbahn einschlug. Jetzt sind Sie ETH-Rektor. Wie fühlt sich das an?

Dass ich jetzt in diesem Büro sitze, ist schon ziemlich surreal. Dieses Gefühl hatte ich aber immer wieder im Laufe meiner Karriere. Ich wurde schon mit 31 Professor. Obwohl dies ein Traum war, habe ich nicht verbissen darauf hingearbeitet, es hat sich so ergeben. Ich habe immer versucht, mich selbst nicht zu überschätzen. Meiner Erfahrung nach braucht es neben Talent und viel Einsatz immer auch ein bisschen Glück. Umso mehr weiss ich es zu schätzen, wenn ich etwas erreicht habe.

Wie war der Anklang in der Familie?

Mein Umfeld hat sich stets mit mir über meine Erfolge gefreut. Ich komme aus einer ganz gewöhnlichen Arbeiter*innenfamilie, die keineswegs wohlhabend war. Dennoch hat sie mich während des Studiums unterstützt. Das ist nicht selbstverständlich, und ich anerkenne das sehr, vor allem im Nachhinein.

Warum wurden gerade Sie unter den Kandidaten zum Rektor gewählt?

Das müssten Sie diejenigen fragen, die mich gewählt haben. Ich habe jedenfalls einen klaren Leistungsausweis in der Lehre, habe 20 Jahre lang auf allen Stufen der ETH gelehrt, habe zur Curriculumentwicklung beigetragen und war Studiendirektor. Ich kenne die Institution also sehr gut – das verleiht mir eine gewisse Autorität.

Sie forschen auf Spitzenniveau und waren bei der Entdeckung des Higgs-Teilchens dabei. Warum ist die Entdeckung – in einfachen Worten – relevant für die Gesellschaft?

Die Grundlagenforschung – und da gehört die Teilchenphysik dazu – hat einen grossen kulturellen Wert. Oft zeichnet sich aber der konkrete Nutzen einer Erkenntnis erst 50 oder 100 Jahre später ab, wenn daraus plötzlich Dinge entstehen, die unseren Alltag prägen. Aber wenn jemand jetzt im Tram sitzt, ist es für die Person wohl nicht relevant, ob es das Higgs-Teilchen gibt oder nicht.

Sie wollen durch «bessere Kommunikation» Maturand*innen abschrecken, damit die ETH nicht überläuft. Wie stellen Sie sich das vor?

Das ist eine diffizile Angelegenheit. Wir müssen das richtig angehen. Unsere Studierenden sollen als Vorbilder direkt mit den Gymnasiast*innen sprechen und ihnen ein realistisches Bild von einem ETH-Studium vermitteln: Ja, Mathe ist schwierig – man kann es aber schaffen, wenn man viel lernt. Es ist eine Gratwanderung: Wir wollen auf keinen Fall diejenigen abschrecken, die das Zeug dazu haben, ein ETH-Studium erfolgreich zu meistern.

Ihre Vorgängerin Sarah Springman wollte nicht, dass die ETH weiter wächst. Die Zahl solle sich bei 20000 Studis einpendeln. Wo ziehen Sie die Grenze?

Eine fixe Zahl kann und will ich nicht nennen. Eigentlich gibt es für die ETH keine intrinsische Motivation Grenzen zu ziehen, denn die Gesellschaft verlangt nach Fachkräften! Aber wenn die Studierendenzahl deutlich stärker ansteigt als die Ressourcen, stellt sich die Frage: Ab wann fängt die Qualität der Lehre an zu leiden?

Die ETH hat zu wenig Ressourcen?

Die Förderung vom Bund kann nicht im gleichen Masse wie die Studierendenzahl anwachsen. Und Geld allein würde das Problem auch nicht lösen.

Also muss die Zahl der Studis doch reduziert werden. Wollen Sie bei den Basisprüfungen mehr Studis rausschmeissen?

Nein, denn viele Ressourcen braucht es bereits im Basisjahr. Das Problem ist nicht gelöst, wenn man statt 35, 50 oder 60 Prozent durchfallen lässt. Wir bilden nicht nur künftige Professor*innen aus, sondern auch Fachkräfte für die Wirtschaft! Und wenn man mehr Leute durchfallen lässt, kann man der Arbeitswelt nicht liefern, was sie braucht. Beim Master haben wir mehr Möglichkeiten, den Zuwachs bei den ausländischen Studierenden zu kontrollieren.

Nur für Studis aus dem Ausland?

Ja, bei den Absolvent*innen einer schweizerischen Universität ginge das aufgrund der rechtlichen Rahmenbedingungen gar nicht. Wir wollen aber durchaus internationale Studierende. Dies einerseits, damit unsere Studierenden in einem internationalen Umfeld agieren, und andererseits, da der Schweizer Markt internationale Absolvent*innen braucht.

«Ich plane eine vorlesungsfreie Woche im Herbstsemester»

Die Frauenquote bei Studierenden und Doktorierenden an der ETH liegt bei nur 33%. Warum?

Das ist kein primäres ETH-Problem, sondern ein gesellschaftliches, das sich an der ETH akzentuiert. Ich mache sozusagen einen «Feldversuch» mit meiner achtjährigen Tochter und beobachte jetzt schon genau, wo die Stereotypen zuschlagen. Das Problem beginnt im Kindergarten, wenn Mädchen in die Ecke mit den Puppen geschickt werden. Das heisst aber nicht, dass wir nicht unseren Beitrag leisten müssen. Und die Zahlen sprechen bei den Neuberufungen der Professor*innen für sich, da liegt die Frauenquote bei 45%.

Ihre Mutter war Hausfrau, Ihr Vater Handelsreisender. Wie sieht es bei Ihnen zuhause aus? Teilen Sie sich die Care-Arbeit ihrer Tochter mit Ihrer Frau?

Ja, so gut wie möglich (lacht). Aber vom Zeitbudget her schaut es bei mir jetzt schon deutlich schlechter aus, obwohl ich keine Vorlesungen mehr geben werde. Meine Frau arbeitet Teilzeit als Goldschmiedin, sie hat einen grösseren Anteil an der Sorgearbeit. Dafür koche ich am Wochenende, das möchte aber meine Frau sicher nicht in der Zeitung lesen. Ich versuche so viel Zeit wie möglich aufzubringen. Alles andere würde meine Frau auch nicht zulassen.

Sie trinken angeblich weder Bier noch Wein. Waren Sie ein langweiliger Physikstudent?

(Lacht) Ich habe nicht mein Leben lang keinen Alkohol getrunken! Ich war kein Nerd, ich habe mein Studium genossen. In meiner WG gab es zwei Medizinstudierende, die haben Tag und Nacht gelernt. Ich hingegen habe mein Studium nicht als Stress empfunden. In letzter Zeit trinke ich aber nur noch sehr selten und wenig Alkohol. Und wenn, trinke ich am liebsten Weisswein.

Gerade während Corona war die psychische Gesundheit der Studis ein grosses Thema. Ist der Leistungsdruck nicht zu gross?

Die Studiengänge sollten nicht überladen werden. Ich möchte Freiräume schaffen. Der Bachelor soll nicht vom ersten bis zum letzten Credit komplett verplant sein. Es braucht mehr Wahlmöglichkeiten. Und die ECTS-Zahl soll dem entsprechen, was vom Kurs verlangt wird. Ich möchte mir auch die Struktur des akademischen Kalenders anschauen und denke unter anderem über eine vorlesungsfreie Woche im Herbstsemester nach. Damit stosse ich bisher auf sehr viel Interesse.

Das würde zum Beispiel Architekturstudis besonders freuen. Die müssen teils sogar auf dem Hönggerberg übernachten.

Dass man auf dem Campus übernachten muss, soll es an der ETH nicht geben. Hierzu muss ich mich aber erst noch informieren und mich in diesen Bereich einarbeiten. Die Welt ist sehr kompetitiv geworden und ein ETH-Studium braucht Talent und Einsatz, aber es soll schon auch Spass machen. Man soll am Ende mit Stolz sagen können: Ich hab’s geschafft und es war keine Tretmühle.