Wissenslücken mit fatalen Folgen
Aus der Forschung — Frauen werden in der Klinik deutlich häufiger fehldiagnostiziert als Männer. Doch das ist nicht der einzige Grund, wieso Gendermedizin wichtig ist.
An der Frauensession im Oktober nahmen 246 Frauen aus allen Regionen der Schweiz während zwei Tagen im Nationalratssaal Platz. Sie stand ganz im Zeichen der Gleichstellung. Nebst einem neuen Sexualstrafrecht und der Revision der Pensionskasse wurde auch ein nationales Forschungsprogramm für die Gendermedizin gefordert. Zahlreiche Studien bilden nämlich einen «Gender Health Gap» ab, ein Komplex an problematischen Unterschieden in Bezug auf das Geschlecht im Gesundheitswesen.
So werden beispielsweise Frauen bei schwerwiegenden Krankheiten seltener intensivmedizinisch behandelt als Männer und frauenspezifische Erkrankungen blieben lange Zeit nahezu unerforscht. Der Forschungsbereich Gendermedizin widmet sich diesen Unterschieden und beachtet dabei das Wechselspiel zwischen Sex und Gender, also dem biologischen Geschlecht und der soziokulturellen Geschlechtsidentität.
Unterschiedliche Symptome
Auch an der Uni ist das Fach seit 2018 vertreten. Ziel ist es, die bestehenden Wissenslücken, die teils fatale Folgen bergen, zu schliessen. «Patient*innen dürfen nicht als Neutrum mit männlichen Zügen behandelt werden», sagte einst Vera Regitz-Zagrosek, Gastprofessorin und Mitglied der Kommission «Sex and Gender in Medicine» an der Uni Zürich.
Auf ihrem Fachgebiet, der Kardiologie, erwies sich die Gendermedizin als unerlässlich. Denn beim Herzinfarkt, der häufigsten Todesursache weltweit, können Frauen andere Symptome aufweisen als die «typisch männlichen». Statt Atemnot und Brustschmerzen äussert sich der Infarkt zum Beispiel in Übelkeit oder Nackenschmerzen. Es dauert länger, bis Frauen richtig diagnostiziert werden, aus serdem erhalten sie weniger invasive Behandlungen als Männer. Die Folge: eine höhere Sterblichkeitsrate bei Frauen.
Der männliche Patient als Standard
«In der Klinik wird die Gendermedizin noch sehr stark vernachlässigt», erzählt Frau Regitz-Zagrosek. «Frauen werden deutlich häufiger fehldiagnostiziert.» Auch in der Forschung galt lange der männliche Patient als Standard. Medikamente wurden hauptsächlich an Männern getestet, «und noch heute gibt es Studien mit gerade mal 20 Prozent der Frauen in der Patientengruppe – das sollte wirklich nicht sein». An der Uni befassen sich zahlreiche Forschungsprojekte mit dem Thema. «Wir wollen erreichen, dass geschlechtsspezifische Medizin in der Forschung sowie in der angewandten Medizin berücksichtigt wird», sagt Kommissionsmitglied Thorsten Buch. Dabei werde grosser Fokus auf die Lehre gelegt, zum Beispiel mit einer besseren Verankerung des Themas im Medizinstudium und Weiterbildungskursen für Ärzt*innen.
Gleichstellung ist auch in der Gesundheit ein Problem. Noch heute existieren geschlechtliche Rollenzuweisungen, Voreingenommenheit, und gar Diskriminierung? «Es ist nicht unbedingt aktive Diskriminierung, die zu diesen Problemen führt, aber es hat für mich etwas mit fehlender Wertschätzung zu tun,» meint Regitz-Zagrosek. Doch Gendermedizin betrifft nicht nur Frauen. Auch Männer sind vom Gender Health Gap betroffen, unter anderem sind bei ihnen psychische Erkrankungen weniger gut erforscht. Gendermedizin richtet sich also – unter Einbezug des gesamten Genderspektrums – an Frauen sowie an Männer; etwas, wovon die ganze Gesellschaft profitiert. Verständlich also, hat das Thema seinen Weg in die Politik gefunden.