Die Welfen treffen sich jeden Dienstag zum «Stamm» im eigenen Saal im Alehouse an der Universitätstrasse. Carlo Mariani, Kai Vogt

Von alten Bräuchen und jungen Studierenden

Über Studentenverbindungen kursieren viele Vorurteile. Wir haben eine besucht.

5. Dezember 2021

Grosse Wappen tapezieren die Wände, am hinteren Ende des Saals schmücken stolz zwei aufgehängte Degen die Räumlichkeit. Ein ausgestopfter Fuchs, platziert auf einer Erhöhung, schaut von oben herab und beobachtet das Treiben. Der Anblick ist ungewohnt: Rund dreissig junge Köpfe sitzen eng gedrängt zusammen, alle tragen eine rote Mütze, formelle Kleidung und ein farbiges Band quer über die Brust. Es wird durcheinandergeredet, bis es vom Ende des Saals laut ertönt: «Silentium!». Darauf erhebt sich eine zweite Person und schreit: «Silentium im Stall!» – «Herrscht!», antworten ihr einige lauthals im Einklang. Darauf folgt die geforderte Stille, bis der sogenannte Senior, das Oberhaupt der Gruppe, das Wort ergreift und das Kommando gibt, zum «ersten Cantus zu steigen». Heisst: Jetzt wird gesungen.

Nichtschlagend und ohne Trinkzwang

Wir sind bei der Studentenverbindung Welfen zu Besuch, die dieses Jahr ihr 100-jähriges Bestehen feiert. Die Mitglieder treffen sich jeden Dienstag zum «Stamm» im Alehouse an der Universitätsstrasse, mitten im Hochschulstandort Zentrum. Gemäss Webseite ist es den Welfen ein Anliegen, «den Spagat zwischen traditionellem und zeitgemässen Studententum zu meistern». Sie seien zudem nichtschlagend und kennten keinen Trinkzwang. Das heisst, die aufgehängten Degen kommen nicht zum Einsatz und es kann niemand zum Saufen genötigt werden. Wir sind erleichtert. Denn um Studentenverbindungen ranken sich viele Vorurteile: Alles Alkoholiker*innen, gewalttätig, sexistisch, rechtsextrem, autoritär.

Diese Vorurteile erwiesen sich als grössere Hindernisse für unsere Recherche. Die «Medien» würden undifferenziert über Studentenverbindungen berichten und das Klischee von versoffenen elitären Männervereinen bespielen, hiess es sinngemäss in den meisten Absagen. Ausser bei den Welfen blieb uns der Zugang als Journalisten überall verwehrt. Nach der Gesangseinlage steht der Senior wieder von seinem thronähnlichen Holzstuhl auf, und kündigt eine Powerpoint-Präsentation an. Dabei fällt auf: Wenn die Anwesenden stehend zur Gruppe sprechen, wechseln sie bewusst ins Hochdeutsche. Es herrschen klare Regeln und fixe Hierarchien. Der Senior ist der Chef, an seinem Tisch sitzen nur «Burschen », also die aktiven Mitglieder, die dem «Salon» angehören. An den zwei anderen Tischen sitzen zum einen im «Stall» die Neulinge, die sogenannten Füxe, zum anderen die Ehemaligen, Altdamen oder -herren genannt.

Die Präsentation dauert rund vierzig Minuten: Der junge Mann stellt sein Start-up vor, spricht von Augmented Reality und bewirbt seine Firma. Das Publikum wird wie Investor*innen behandelt, der Vortragende wirbt um unsere Gunst. Tatsächlich war es für den Studenten eine Probe für den Vortrag vor potentiellen Kunden, erzählt er uns später bei Bier und Zigaretten.Nach dem Vortrag erteilt der Senior mit dem Ausspruch «Colloquium» den Anwesenden wieder die Redeerlaubnis. Man freut sich – Stühlerücken, Geschwätz, Gelächter. Aber selbst in diesem regen Treiben bleiben die Strukturen sichtbar. So sind zum Beispiel nur die Füxe fürs Bierholen verantwortlich. Sie dürfen zwar kostenlos trinken, müssen sich aber vor ihrer Prüfung zum vollwertigen Mitglied zwei Jahre lang als Gehilfen beweisen. «Das gehört eben dazu», erklärt ein Bursche auf Nachfrage. «Unangenehm wird es nur kurz vor der Prüfung. Dann muss man nochmal zwei Wochen unten durch.» Das heisst, man müsse in dieser Zeit praktisch alle Befehle befolgen, welche die in der Hierarchie Höhergestellten erteilen. Das könne selbst der Befehl sein, einer Person das Frühstück nach Hause zu bringen. Bei den Welfen gehe man aber nicht so weit, versichert er mit einem breiten Grinsen.

Keine politische Linie

«Wieso macht man das alles mit?», kann man sich hier fragen. Und nach Gesprächen mit mehreren Mitgliedern merkt man, dass die Gründe unterschiedlich sind. «Mir gibt die Studentenverbindung einen Rahmen, sie gibt mir Halt», erzählt ein langjähriges Mitglied. «Meine Freunde aus dem Gymnasium sehe ich nur sehr selten. Mit diesen Leuten komme ich jede Woche zusammen.» Auch viele andere betonen den sozialen Aspekt. Dazu treffe man öfters andere Verbindungen, auch aus anderen Städten. Es seien häufig die reinen Männerverbindungen, die den Kontakt zu gemischten Gruppen wie den Welfen suchten, erklärt eine andere Welfin augenzwinkernd. Welche Rolle spielt die Politik? Ein Mitglied und Geschichtsstudent sucht mit ausladenden Gesten nach einem Wortbild und bestätigt, Verbindungen seien eher bürgerlich, CVP. Der Senior, der mit Verbindungsnamen «Berserker» heisst, klärt über die politischen Verhältnisse auf: Eigentlich habe man hier keine klare politische Linie, es gebe Leute aus allen Parteien sowie aus allen Regionen der Schweiz. Vor allem fällt auf, dass viele Anwesende mit einem Bündner Dialekt sprechen. Die Verbindung als Integrationsinstrument für nicht Zürcher Studierende?

Ein Bierstreit bricht aus

Nach dem nächsten Silentium-Aufruf geht es munter zu einem Aufnahmeritual weiter. Die Kandidatin steigt auf einen Stuhl, dann wird sie ausgefragt: «Warum willst du den Welfen beitreten?», oder «Was wärst du für ein Pizzabelag?». Gefallen die Antworten, werden sie mit Tischklopfen quittiert. Nach jeder Antwort kann ein Mitglied ein Statement der Kandidatin als «Vorschlag» fürs Protokoll einreichen. Neben humorvollen Meldungen fallen auch vereinzelt unangenehme Sprüche. Auf die Frage, was die Anwärterin denn gut könne, antwortet sie: «Ich kann den Spagat.» Darauf ruft ein Bursche: «Vorschlag: Sie macht gerne ihre Beine breit!» Mit grossem Gelächter und beschämten «Oh Mann!» wird die Wortmeldung zu Protokoll geführt.

«Mir gefällt die klare Rangordnung in der Verbindung.»

Das Lokal Alehouse, in dem sich der abgetrennte Saal der Welfen befindet, verkündet nach 23 Uhr die letzte Runde, es geht in der eigenen Bar weiter. Die Stiftung der Welfen besitzt nämlich an der Universitätstrasse zwei Immobilien. Im einen Haus ist das Restaurant Alehouse, im anderen die private Bar. In den zwei Liegenschaften werden zudem 28 Zimmer vorwiegend an Verbindungs-Studis vermietet.

In der Bar wird erst recht getrunken, Freunde von anderen Verbindungen kommen hinzu. Man lacht, alle kennen sich, trotzdem reicht man sich formell die Hand. Gewisse Normen bleiben bestehen, denn auch das ist für einige ein Anreiz: «Ehrlich gesagt gefällt mir die klare Rangordnung. Man lernt dadurch, wie man eine Gruppe zu leiten und wie man sich darin zu verhalten hat», sagt eine Welfin. Dann wird sie unterbrochen, sie solle als Richterin fungieren, ein Bierstreit sei ausgebrochen – wie bitte? Dies sei die heutige Art, Konflikte zwischen Verbindungen zu lösen. Anstatt dass wie früher die Degen gekreuzt werden, wird um die Wette getrunken. «Auf die Plätze, fertig, los!». Und zwei Männer stürzen mit noch nie gesehener Schnelligkeit ihre vollen Biergläser herunter. Die Runde tobt, der Gewinner grinst stolz. Um Mitternacht wird plötzlich das Licht gelöscht, jedes einzelne, bis es stockfinster ist. «Silentium!», ertönt es erneut. Dann wieder «Silentium im Stall!», «Herrscht!». Und es wird noch einmal frohgemut und angetrunken zum Cantus gestiegen.