Die Züri City Card soll den Alltag hier lebender Papierloser menschenwürdiger machen. Caspar Zollikofer

Ein Ausweis für alle

Ein städtisches Identitätspapier: Die Züri City Card polarisiert, noch ehe ihre Einführung beschlossen ist. Was steckt dahinter?

5. Dezember 2021

Im November hat ein bürgerliches Komitee gegen einen vom Stadtrat verabschiedeten Kredit von 3.2 Millionen Franken das Referendum eingereicht. Dabei geht es um die Einführung einer städtischen Ausweiskarte, der Züri City Card (ZCC). Die ZCC soll allen Bewohner*innen der Stadt ausgestellt werden – egal, ob sie sich legal in Zürich aufhalten oder nicht. Ziel ist, dass sich mit der ZCC auch Sans- Papiers gegenüber städtischen Behörden ausweisen können. Dem Referendumskomitee gehört auch Camille Lothe an, Präsidentin der Jungen SVP Zürich und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft an der Uni. «Mit der ZCC geht es der Stadt darum, sich aktiv gegen die Ausländer*innenpolitik des Bundes zu wehren», meint Lothe, «das akzeptieren wir nicht.»

Obwohl es sich erst um einen Projektierungskredit handle, da noch rechtliche Fragen offen seien, wolle man mit dem Referendum zeigen, dass die Bevölkerung weder das Verschleudern von Steuergeld noch den Verstoss gegen Bundesrecht schlucke.

New York als Vorbild

Der Beschluss geht aufs Jahr 2018 zurück. Damals reichten AL, SP und Grüne im Gemeinderat eine Motion ein, welche die Einführung einer ZCC forderte. In diesem Sommer hat der Stadtrat die Lancierung beschlossen. Doch was nützt eine Ausweiskarte, die nur auf Stadtgebiet Gültigkeit hat? Rund 10’000 Sans-Papiers leben laut Schätzungen ohne geregelten Aufenthaltsstatus in Zürich. Viele arbeiten schwarz unter schlechten Bedingungen, als Hausangestellte oder Küchenhilfen. «Wir müssen anerkennen, dass es in einer städtischen Gesellschaft Sans-Papiers gibt, die hart arbeiten und deren Situation schwierig ist», sagt Caspar Zollikofer vom Verein Züri City Card. Dennoch ist die Situation in Zürich anders als in gewissen Städten in den USA, wo das Konzept einer «urban citizenship» bereits praktiziert wird.

So besitzt in New York ein Grossteil der Menschen keine anderen Ausweisdokumente als die städtischen. Diese sogenannten «sanctuary cities», Städte der Zuflucht, setzen die US-amerikanischen Einwanderungsgesetze nicht oder nur beschränkt um. Sie wollen Menschen Sicherheit gewähren, die illegal im Land sind, jedoch seit Jahren, teils gar Jahrzehnten in den USA wohnen, dort arbeiten und Kinder aufziehen. Könnte dies auch in Zürich umgesetzt werden? Hier ist man sich gewohnt, sich mit einer ID auszuweisen. Zudem ist Zürich eine Gemeinde wie jede andere und wird durch kantonales und nationales Recht eingeschränkt.

Die Rechtslage ist unklar

Der Stadtrat fragte sich, ob die ZCC zulässig sei, und gab zwei Gutachten bei der Rechtsprofessorin Regina Kiener in Auftrag. Zwar darf gemäss Kieners Gutachten nur der Bund Dokumente ausstellen, welche die Schweizer Staatsangehörigkeit belegen. Ein Ausweis, der mit Namen und Foto die Identität einer Person bestätigt, kann der Bund einer Stadt aber nicht verwehren. Regina Kiener betont, bereits heute würden ähnliche Dokumente ausgestellt – man denke an Studi-Legis.

In Kieners Augen missverstehen die Gegner*innen der ZCC den neuen Ausweis als Ersatz für die ID, statt ihn als Ergänzung zu begreifen. «Uns ist bewusst, dass die City Card kein Ersatz für Aufenthaltsbewilligung, Pass oder ID sein kann», pflichtet Caspar Zollikofer bei. Der Verein ZCC ist überzeugt, die Untätigkeit des Bundes im Bereich der Papierlosen zwinge die Stadt zum Handeln. «Es gibt Probleme, die nur in Städten bestehen», sagt Zollikofer. «Wenn Kanton und Bund den illegalisierten Status der Sans-Papiers nicht ernstnehmen, muss die Stadt selber Lösungen finden.» Die Diskussion um die City Card reiht sich in die Debatte um die Frage ein, ob Städte zu wenig rechtliche Kompetenzen haben, gerade im Asyl- und Migrationsbereich. Im Juni 2020 etwa, zeigten sich die acht grössten Städte der Schweiz bereit, rasch eine grosse Zahl von Migrantinnen und Migranten aus dem Geflüchtetencamp Moria aufzunehmen – und blitzten damit bei Bundesrätin Keller-Sutter ab.

Politiker*innen von links bis rechts sind sich grundsätzlich einig: Es bräuchte für die Sans-Papiers-Problematik eine nationale Lösung. Doch Bea Schwager, Leiterin der Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich (SPAZ), warnt: «Bei den bestehenden politischen Mehrheiten in National- und Ständerat müssen wir aufpassen, dass es nicht zu Verschlechterungen kommt.»

«Es gibt Probleme, die nur in Städten bestehen.»
Caspar Zollikofer, Vereinsmitglied bei der Züri City Card

Gleiches gilt für den Kanton Zürich: Im September 2020 lehnte der Kantonsrat ein Postulat der Grünen ab, das eine einmalige Regularisierung von Sans-Papiers nach dem Vorbild der Operation Papyrus in Genf forderte.

Camille Lothe wirft den Befürworter-*innen der ZCC Unehrlichkeit vor. Verein und Stadt sollten zugeben, dass das Ziel längerfristig die Legalisierung von Papierlosen sei: «Indem man eine fadenscheinige ID mit Gutscheinkarten fordert, drückt man sich vor der ehrlichen politischen Arbeit.» Für Menschen, die seit Jahren ohne geregelten Aufenthaltsstatus in Zürich leben, gebe es längst Härtefalllösungen. «Ist der Härtefall aber nicht gegeben, bleibt es Tatsache, dass diese Menschen das Land verlassen müssen», findet Lothe. Sie kritisiert zudem, Betroffene könnten sich aufgrund der ZCC in falscher Sicherheit wähnen. Bea Schwager widerspricht: Heute sei der Alltag von Sans-Papiers geprägt von einer ständigen Angst, sich ausweisen zu müssen. «Diese Angst hängt wie ein Damokles-Schwert über ihnen und macht viele krank», so Schwager. Die ZCC löse nicht das Problem des illegalen Aufenthalts, sei aber ein erster positiver Schritt.

Aber wie viel Sicherheit bietet die ZCC? Das wird kontrovers diskutiert. Das Referendumskomitee findet, ein Stadtpolizist, der bei einer Kontrolle eine City Card akzeptiere, mache sich strafbar. Doch eigentlich gilt: Nur wenn die Polizei einen begründeten Verdacht auf illegalen Aufenthalt hat, darf sie sogenannte «qualifizierte Ausweisdokumente» verlangen. Aber erweckt eine Person, die sich mit der ZCC ausweist, nicht automatisch Verdacht? Nein, findet Caspar Zollikofer, «ein ‹fremdes› Aussehen oder das Vorweisen einer ZCC begründet keinen Anfangsverdacht auf illegalen Aufenthalt.»

Die ZCC soll Mehrwert für alle bieten

Doch damit die Polizei vom Vorzeigen einer ZCC nicht direkt darauf schliesst, ist eines zentral: Genügend Menschen mit geregeltem Status müssen sich ebenfalls eine City Card ausstellen lassen. Bea Schwager zählt auf die Solidarität der Zürcher*innen: «Indem man sich selbst mit der ZCC ausweist, schützt man die vielen Sans-Papiers, die unter uns in der Stadt leben.» Insofern kommt der ZCC symbolische Bedeutung zu: Sie soll Bewusstsein für die Lebensumstände Papierloser schaffen und Handlungsbedarf aufzeigen. Die Stadt selbst setzt nicht nur auf Solidarität, sondern will die ZCC auf andere Art für alle attraktiv machen: Stadtzürcher*innen sollen künftig Badiund Theater-Abo auf der ZCC vereinen, von Vergünstigungen profitieren und die Karte als E-ID nutzen können.

Gemäss Verfassung hat der Staat die Grundrechte aller Personen zu wahren, unabhängig von deren Aufenthaltsstatus. Zürich will den Sans-Papiers mit der ZCC zumindest einen Teil der Grundrechte ermöglichen: Folgt die Stadt damit einem Verfassungsauftrag? Oder verstösst sie gegen übergeordnetes Migrationsrecht? Hier scheiden sich die Geister – und die Züri City Card polarisiert bereits Jahre vor ihrer möglichen Einführung. Im Mai wird sich zeigen, was das Stadtzürcher Stimmvolk von der City Card hält.

Korrigendum: In der gedruckten Version dieses Artikels steht im letzten Satz, die Abstimmung finde im Februar statt. Nach heutigem Wissensstand findet die Abstimmung voraussichtlich am 15. Mai 2022 statt. Ebenso steht in der gedruckten Version ein Teilsatz, wobei missverstanden werden könnte, Caspar Zollikofer spreche von «Racial Profiling» bei Polizeikontrollen. Das war kein Zitat von Zollikofer, weshalb wir den Teilsatz nun gelöscht haben. [red]