Nur Menschen mit Matura dürfen an der Uni studieren. Den anderen bleibt der Zugang vorerst verwehrt. Sumanie Gächter

Studieren ohne Matura

Rektor Michael Schaepman wünscht sich für die Uni Zürich einen erleichterten Zugang zum Bildungsangebot. Was bedeutet das?

31. Oktober 2021

Auf die Frage «Was muss eine Universität heute leisten?» antwortete Uni-Rektor Michael Schaepman im Interview mit der NZZ am Sonntag im März dieses Jahres: «Wir müssen mehr Menschen aus bildungsfernen Schichten motivieren, an die Uni zu kommen.» Zudem erklärte Schaepman: «Die Universität hat weiterhin die Aufgabe, Bildung zu vermitteln, die zu einem akademischen Titel führt, einem Bachelor oder Master.» Dafür braucht man die Matura. «Aber wir bieten Tausende Vorlesungen an. Wieso kann man diese nicht für alle öffnen, die sich individuell qualifizieren wollen?», sagt Schaepman im Interview. Gemäss dem Rektor soll die Uni in Zukunft also für alle offen sein. Seine Idee ist es, ein eigenes individuelles Weiterbildungspaket aus den bestehenden Modulen zusammenstellen zu können, zugeschnitten auf die persönlich fehlenden Kompetenzen.

Der Plan ist eine Initiative des Rektors

Gemäss dem, was bereits über das Projekt bekannt ist, müssten zuerst die Gesetze angepasst werden. Zudem wäre die Umsetzung teuer. Schaepman denkt an, dass «der Kanton die Finanzierung im Budget der Universität vorsieht», oder dass solche Angebote kostendeckend wären. Aber bezüglich Umsetzung bleibt die Medienstelle der Uni Zürich vorsichtig: «Grundsätzlich handelt es sich dabei um eine Idee des Rektors und noch nicht um eine Vision der Universität.»

Weiter verweist die Medienstelle auf den Folgeartikel der NZZ am Sonntag, worin Schaepman den Wunsch äussert, weein Pilotprojekt zu starten. Für dieses sei die Matura immer noch erforderlich und wenn das Projekt gut ankomme, würden weitere Schritte eingeleitet werden. Schaepman äussert sich auf Anfrage konkreter: «Im Moment sind wir dabei, eine Projektidee zu formulieren. Vermutlich werden wir im Jahr 2022 mit einem Projekt starten. Bis dahin klären wir die Rahmenbedingungen und Anforderungen ab.»

Lebenslanges Lernen

Nicola Condoleo, der am Gymnasium und an Fachmittelschulen lehrt, meint: «Es ist längst bekannt, dass die Maturitätsquote nach Gemeinde sehr unterschiedlich ist.» Zum Beispiel im Kanton Zürich: «In der Gemeinde Opfikon-Glattbrugg ist die Maturitätsquote mit etwas mehr als 8 Prozent in der Erhebungsperiode von 2017 bis 2020 viel tiefer als in Küsnacht, wo sie bei 41.5 Prozent liegt.» Schaepman ist sich dieses Problems bewusst. Ohne Matura an die Uni zu kommen, sei trotz der Durchlässigkeit des Bildungssystems extrem schwierig. «Viele öffnen den Knopf erst später im Leben. Was spricht dagegen, dass sie dann noch an die Uni kommen? Nichts.»

Condoleo und Schaepman sind sich einig, dass der Zugang für «Bildungsferne » erleichtert werden soll. Aber Condoleo kritisiert Schaepmans Idee: «Die Öffnung, wie er sie anpreist, ist eher die Erschliessung des Weiterbildungsmarktes für die Uni Zürich.» Es handle sich um einen «Etikettenschwindel». Condoleo ergänzt: «Und unter dem abgedroschenen Label des lebenslangen Lernens scheint eine ökonomistische Maxime durch.» Eigentlich müsste es heissen: «lebenslänglich », da ein Zwang darin stecke, wenn man seine Arbeitskraft flexibilisiert weiterbildet, um sie besser anpreisen zu können. Was Schaepman vorschlägt, sei keine Bildungsrevolution, sondern die Erweiterung der Ausbeutung im Bildungssektor.

Katja Rost ist Soziologieprofessorin an der Uni Zürich und sagt: «Ich finde die Idee von Michael Schaepman gut. Für Kinder, die aus bildungsfernen Schichten stammen, ist die Bildungsdurchlässigkeit nicht gegeben.» Oft entstehe der Wunsch erst später im Lebensverlauf, wenn keine Möglichkeit für einen Unizugang mehr bestehe. Rost fügt dem an: «Weil Universitäten ein öffentliches Gut zur Verfügung stellen, ist es auch richtig, diese Schichten teilnehmen zu lassen.»

Bildungsanstalten konkurrieren einander

Allerdings spreche dagegen, dass es einen Trend gebe, der seit langer Zeit anhalte. So forschten etwa Fachhochschulen immer mehr und deren Absolvent*innen könnten in Kooperation mit Unis promovieren. Es gebe also einen Verdrängungswettbewerb zwischen verschiedenen Bildungsanstalten, mit dem Effekt, dass sich das Profil der Institutionen immer stärker angleiche. «Fachhochschulen werden weniger anwendungsorientiert und Universitäten anwendungsorientierter und weniger elitär im Bildungsanspruch.» Aber diese Richtung gebe nicht allein die Universität vor. «Es ist ein genereller Trend im Bildungssystem, mit der Konsequenz, dass Personen mit Lehre oder Fachausbildung fehlen.» Aber so etwas reguliere laut Rost irgendwann der Markt, und man sehe bereits heute, dass Personen mit Anwendungsbezug teilweise höhere Gehälter beziehen als Studienabgänger*innen.

Nürnberg kennt individuelle Bildungspakete

An den meisten Universitäten bestehen bereits ähnliche Angebote, wie sie Schaepman vorschlägt; Auditor*innen können die meisten Module individuell besuchen, jedoch wird ihre Teilnahme nicht zertifiziert. Darüber hinaus kann man die meisten Unis ab einem Alter von 30, manchmal auch 25 Jahren mit einer fachspezifischen Aufnahmeprüfung besuchen.

Vergleichbares zu Schaepmans Idee eines individuellen Bildungspakets bietet die Universität Nürnberg. Unter normalen Zulassungsvoraussetzungen kann man im «Modulstudium» sein individuelles Bildungspaket zusammenstellen. Die Uni Nürnberg bietet auch das Orientierungsstudium MINT (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) an. Man kann alle Kurse der vier Disziplinen besuchen und sich die Kreditpunkte der Disziplin, für die man sich entscheidet, anrechnen lassen.