Ein Teil des bücherraum f ist der Bestand der Frauenlesbenbibliothek «schema f» Stephanie Caminada

Ungewohnte Verbindungen

Im bücherraum f in Oerlikon sammeln sich auf kleinem Raum Raritäten. Darunter Werke aus drei Jahrzehnten Frauengeschichte und vierzig Jahren Arbeit an der Theoriezeitschrift Widerspruch.

28. Oktober 2021

Wenige Parallelstrassen vom Bahnhof Oerlikon entfernt, im Parterre eines grauen Wohnblocks an der Jungstrasse, befindet sich eine auf den ersten Blick eher beschauliche Bibliothek. Ein dezentes Schild im Eingang des Hauses kündigt die Räumlichkeiten als «bücherraum f» an. Auf dem hellen Parkett stehen blaue Büchergestelle aus Stahl. Sie sind bis oben gefüllt. Nur hie und da ist Platz ausgespart für kleine Schalen mit Kaffeepulver, um den sonst so typischen Geruch antiker Bücher zu neutralisieren. Bei näherem Betrachten kann die Bibliothek einen ungeahnt reichhaltigen Bestand vorweisen, der in die Tiefe geht. Auf 120 Quadratmeter bietet der bücherraum f rund 20’000 schriftlichen Dokumenten ein Zuhause. Es sind Bücher, Zeitschriften, Dossiers, die sich thematisch und räumlich in zwei Pfeiler aufteilen: die Frauenlesbenbibliothek «schema f» sowie die «Politisch-philosophische Bibliothek».

Theoretische Werke und Raritäten

Der Kern der «Politisch-philosophischen Bibliothek» sind jene Bücher, die der langjährige Redaktionsleiter der Zeitschrift Widerspruch, Pierre Franzen, im Zusammenhang mit der Redaktionsarbeit und der Diskussionskultur bei der Zeitschrift gesammelt hat. Seit 2018 hat Stefan Howald diesen Grundbestand weiter ausgebaut. Howald ist Publizist, Journalist und Mitgründer des Widerspruch. Zusammen mit Kolleg*innen der Zeitschrift und von schema f hat er den bücherraum f ins Leben gerufen. Der Umfang der Politisch-philosophischen Bibliothek ist seither auf knapp 9500 Titel erweitert worden, zum Teil aus eigenen Beständen. Der Widerspruch feiert derzeit das 40-jährige Jubiläum. 1981 wurde er mit dem Ziel gegründet, einen Ort kritischer Reflexion zu sein. Heute sieht er sich als «konstante Stimme in der Diskussion für eine soziale und gerechte Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung». So erscheint demnächst die Nummer 77, die sich mit Geld, Macht und Politik beschäftigt.

Stefan Howald ist Gründungsmitglied des bücherraum f und betreut die «Politisch-philosophische Bibliothek» Stephanie Caminada

Stefan Howald ist Gründungsmitglied des bücherraum f und betreut die «Politisch-philosophische Bibliothek». Foto: Stephanie Caminada Die Bücher gliedern sich in zahlreiche Unterabteilungen, bevor sich die Buchrücken alphabetisch nach Autorennamen aneinanderreihen, was ihren thematischen Schwerpunkten mehr Gewicht in der Ordnung verleiht. Geht man den Gestellen entlang, finden sich also theoretische Werke zur politischen Philosophie, Schriften zum Marxismus, zum religiösen Sozialismus, Arbeiten der Frankfurter Schule, die grossen Namen tauchen auf, Althusser, Foucault, Gramsci, Žižek. Auch die 68er-Bewegung sowie spätere neue soziale Bewegungen, Ökonomie und Soziologie bilden Schwerpunkte der Bibliothek. Gut dokumentiert ist die Schweizer Arbeiterbewegung. Hier finden sich auch einige Raritäten, zum Beispiel erste Drucke von Robert Grimm, einer der entscheidenden Figuren, oder auch Teile von Roland Gretlers Panoptikum zur Geschichte der Arbeiterbewegung, etwa sozialistische Monatshefte von 1913. Das Panoptikum war ein in seiner Art einzigartiges und wichtiges Bild- und Textarchiv zur Sozialgeschichte, das Gretler seit den 1970er Jahren in Zürich aufgebaut hatte und das nach seinem Tod aufgelöst wurde. Die meisten Bücher wurden ins Sozialarchiv integriert, Einzelbestände zerstreuten sich an verschiedene andere Orte.

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Foto: Stephanie Caminada Eine weitere Besonderheit sind einige Broschüren. So zum Beispiel Diskussionsdokumente der Jungen Sektion der Partei der Arbeit aus der Zeit zwischen 1965 und 1968, die mit ihrer Mutterpartei in ideologische Konflikte geriet, dann zur Vorläuferin der 68er Bewegung und schliesslich 1969 wieder aufgelöst wurde. Die Schriften wurden noch als «Schnapsmatrizen» gedruckt. Der Vorläufer des Kopierers, der Matrizendrucker, mit dem man Schriften vervielfältigte, produzierte Matrizen. Frisch gedruckt rochen diese Schriften nach der alkoholischen Flüssigkeit, dem Schnaps, die man in den kleinen Tank des Druckers füllte, daher der Name. «Etliche solche Sachen haben wir hier», sagt Stefan Howald.

Ungeahnte Zusammenhänge

«Das Schöne an Bibliotheken ist, dass man Verbindungen aufstöbert, die man sonst nicht gleich sehen würde», so Howald. Suche man etwa nach Robert Grimm, weil man mehr über die Schweizerische Arbeiterbewegung wissen möchte, sei Fritz Brupbacher nicht weit, sie waren einst Parteigefährten. Brupbacher hatte im frühen 20. Jahrhundert eine Arztpraxis im Zürcher Arbeiterquartier Aussersihl und widmete sich daneben der Propaganda eines freiheitlichen Sozialismus in der Arbeiterklasse. Mit Paulette Brupbacher, seiner zweiten Frau, engagierte er sich später für die Sexualaufklärung und bezog Stellung zugunsten der Abtreibung. Paulette, die selbst Ärztin war und mit ihrem Mann die Praxis führte, schrieb schliesslich selbst ein Buch «Meine Patientinnen». «Und plötzlich landet man im anderen Teil des bücherraum f», erklärt Howald. Der Bestand des bücherraum f mag etwas zufällig wirken. Die Bibliothek ist aber tatsächlich gewissermassen nach Schema F konzipiert, nach einem Muster, nach Schwerpunkten. Sie ist jedoch nicht, wie der Name auch suggerieren könnte, unpersönlich, ohne Denkarbeit entstanden. In dieser Bibliothek geht es ums Entdecken, um das Sichtbarmachen von Verbindungen und Zusammenhängen.

Abbild der Geschichte der Frauenbewegung

Die Frauenlesbenbibliothek «Schema f» gehörte früher zum Frauen*zentrum an der Mattengasse. Als dieses 2004 teilweise aufgelöst wurde, musste die Bibliothek ausziehen und die Bücher wurden bis auf Weiteres eingelagert. Seit 2018 sind sie nun im bücherraum f wieder zugänglich. Die rund 12’000 Werke, darunter viel Belletristik und feministische Krimis, sind alle von Frauen geschrieben und nach feministischen Gesichtspunkten katalogisiert. Interessant sind die Seminar- und Abschlussarbeiten zur feministischen Diskussion in der Schweiz, die Studentinnen der Universitäten, der Bibliothek überlassen haben und die an anderen Orten nicht vorhanden oder schwer zugänglich sind. Seit der Einlagerung sind allerdings kaum mehr Bücher hinzugekommen. «Die Bibliothek ist zwar nicht auf dem allerneuesten Stand, dafür enthält sie alles, was in den 70er-, 80er- und 90er-Jahren bewegt hat und für die Frauenbewegung wichtig war», sagt Howald. Wenn heute ältere Leute ihre Bücher aus einem Haushalt vorbeibringen, in dem auch feministisch engagierte Frauen dabei waren, seien das erfahrungsgemäss oft Titel, die schon vorhanden sind, etwa die Bücher von Christa Wolf oder Irmtraud Morgners «Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz» von 1974. «Das hat damals zum Kanon gehört.» So reflektiert die Bibliothek die Geschichte der Frauenbewegung im Allgemeinen und die Anliegen der Zürcher Frauenbewegung sowie die Interessen einzelner Bibliotheks-Mitarbeiterinnen im Frauen*zentrum im Besonderen.

Foto: Stephanie Caminada Analog zu den kritischen Büchern in seinen Regalen, die Denkanstösse liefern, will der bücherraum f «eine Möglichkeit bieten, in intensivem Rahmen zu debattieren». In den drei Jahren seit der Gründung organisierten das Team rund 45 öffentliche Veranstaltungen. Es waren klassische Lesungen, etwa mit Else Laudan von den feministischen Ariadne-Krimis oder mit der Autorin Isolde Schaad oder die Reihe «ausgelesen», bei der etwa Historiker*innen wie Elisabeth Joris oder Jakob Tanner Bücher aus der Bibliothek vorgestellt haben, die sie wichtig finden. Zudem fanden Vorträge statt zu Themen wie Denkmalsturz, genossenschaftlicher Wohnbau oder der Verteilung des Reichtums in der Schweiz. Dann kam die Pandemie, die nicht diskutieren wollte. So fanden die Veranstaltungen als Podcast statt, den man über die Webseite findet. Mittlerweile hat das Team über ein Duzend, thematisch vielfältige Folgen produziert, unter anderem mit Zita Küng, Juristin, Genderexpertin und Frauenrechtsaktivistin, die für sie bedeutende feministische Sachbücher und Krimis aus der Bibliothek bespricht, eine Folge zur Darstellung globaler Gesellschaften und Kulturen in Atlanten, in der etwa über den Peters-Atlas gesprochen wird, der den Eurozentrismus zu überwinden versuchte oder über neuste Versuche einer scheibenförmigen Weltkarte, oder eine Folge über alternative Publikationen wie die Hefte der Berliner «alternative» oder der «neutralität», der in den sechziger Jahren wohl wichtigsten Kulturzeitschrift hierorts, deren Ausgaben komplett in der Sammlung des bücherraum f vorhanden sind. Der bücherraum f arbeitet für die Veranstaltungen mit der Grafikerin Helen Ebert zusammen, die kleine Plakate gestaltet. Darauf zu sehen ist stets ein vervielfältigtes F als Computergrafik. Manchmal muss man es suchen, muss die Zwischenräume anschauen, um es zu entdecken, manchmal offenbart es sich ganz von selbst – wie die Bücher in diesen Räumlichkeiten. Eins gibt den Blick auf ein anderes frei und manchmal springt ein unverhoffter Titel ins Auge.

Ab Mitte November organisiert der bücherraum f wieder Veranstaltungen. Am 16. November etwa ist Hans Fässler mit seinem neuesten Kabarettprogramm zu Besuch. Es gelten die üblichen Covid-Massnahmen.

Im aktuellsten Podcast spricht Schriftstellerin und Essayistin Friederike Kretzen über das Werk und Leben der Schriftstellerin Adelheid Duvanel, er kann hier nachgehört werden.