Selbstbestimmt trotz Demenz

Aus der Forschung — Menschen mit Demenz sind auf Hilfe angewiesen. Man soll ihnen dabei auf Augenhöhe begegnen.

26. September 2021

Die Frage, wie das gute, das «glückselige» Leben zu erreichen sei, wie sich etwa mit den Herausforderungen des Alterns, des Sterbens, aber auch den Anforderungen des Zusammenlebens umgehen lässt, wird seit jeher zu beantworten versucht. So hoffte man in der Antike anhand der Lehre der Ethik Antworten zu finden. Daran knüpfte wiederum im 20. Jahrhundert der französische Denker Michel Foucault an, als er sein Konzept der «Selbstsorge» entwickelte; der Sorge um das eigene Selbst. In der Selbstsorge geht es Foucault zufolge sowohl darum, das eigene Leben frei zu gestalten, als auch Formen des ethischen Miteinanders zu finden. Im guten Leben strebt das Selbst «Souveränität über sich selbst» an. Eine Gruppe von Personen, welcher diese Souveränität bis heute besonders oft verweigert wird, sind Menschen mit Demenz.

Hilfe und Selbstsorge im Einklang

Allzu oft, so scheint es, werden Personen mit kognitiven Beeinträchtigungen übergangen und beinahe schon als «Objekte» behandelt: als «etwas», um das man sich kümmern muss, nicht als «jemand», den man in seinen Handlungen unterstützen kann. Zu Unrecht – wie die Kulturwissenschaftlerin Valerie Keller in ihren Arbeiten zu demonstrieren sucht. So hat Keller in ihrer Dissertation, die im Rahmen des Forschungsprojekts der Universität Zürich «Selbstsorge bei Demenz» entstanden ist, zwanzig vielstündige Interviews mit diversen dementen Personen geführt. Auf Grundlage derer versuchte sie herauszuarbeiten, wie Hilfe von aussen mit dem Anspruch an die eigene Souveränität in Einklang gebracht werden kann und auf welche Weise es den Betroffenen gelingt, trotz ihrer Beeinträchtigungen ein Leben zu führen, dem es weder an Würde noch an Genuss zu mangeln hat. Entscheidend sei bei ihrer Forschung die Bemühung, mit den Dementen selbst zu sprechen, nicht über diese hinweg. Nur so würde die Souveränität dementer Personen anerkannt.

Verändertes, nicht reduziertes Geniessen

Immer wieder erzählten in diesen Gesprächen Betroffene von der Einsicht, dass eine Verminderung der kognitiven Fähigkeiten nicht zwingend mit einer Verminderung der Lebensqualität einhergehen muss. «Die Demenz gilt es damit vielleicht weniger als Reduktion, sondern als Veränderung des Geniessens zu verstehen; der Genuss verlagert sich zunehmend auf das Körperliche, Sinnliche», sagt Keller. Eindrücklich erzähle beispielsweise eine Frau davon, wie sie bei stürmischem Wetter in einen überquellenden Bach stieg – vom Druck des Wassers, den sie spürte; von der Stärke der Strömung, gegen die sie laufend ankämpfte.

Das Altern nicht verdrängen

Gemeinsam mit ihren Gesprächspartner*- innen zeigt Keller Techniken der Selbstsorge auf, welche Betroffenen dabei helfen können, sich an ihre neuen Lebensumstände zu gewöhnen und sich weiterhin aktiv einzubringen, ohne aber Hilfeleistungen als Erniedrigung aufzufassen. «Entscheidend ist die Akzeptanz dessen, dass sich weder der Alterungsprozess ganz aufhalten, noch die Jugend wiederholen lässt. Im ‹Verwelken› lässt sich eine eigene Art von Schönheit finden, sofern man danach sucht», so Keller. Mit ihrer Arbeit gilt es jene Auffassung zu hinterfragen, welche in unserer von Leistungs- und Jugendwahn besessenen Gesellschaft so populär ist: dass die beste Art zu altern darin besteht, das Altern zu verdrängen.