Aida (Jasna Đuričić) übersetzt die Informationen von UN-Kommandant Thom Karremans. Screenshot

Wo wird das hinführen?

Der Film «Quo Vadis, Aida» gedenkt der Frauen, deren männliche Familienmitglieder und Bekannte im Massaker von Srebrenica ermordet wurden – und hebt das Versagen der UNO hervor.

8. August 2021

Bosnien, 11. Juli 1995. In einem Dorf unweit der serbischen Grenze rattern Panzer über die staubtrockenen Strassen, sie mähen nieder, was sich ihnen in den Weg stellt, selbst die Natur muss weichen. Soldaten folgen. Es ist Krieg, seit dreieinhalb Jahren. Bosnisch-serbische Einheiten übernehmen die Kontrolle der Stadt. «Srebrenica verwandelt sich in ein riesiges Schlachthaus. Jede Sekunde gehen drei tödliche Geschosse auf die Stadt nieder», lässt sich aus einem Radio vernehmen. «Wird irgendjemand auf der Welt Zeuge der Tragödie werden, die sich in Srebrenica abspielt?» Die Frage antizipiert die Gräueltaten, die als Massaker von Srebrenica bekannt sind und später in einem Urteil des Internationalen Gerichtshof 2007 als Völkermord klassifiziert werden würden.

Zehntausende Einwohner*innen von Srebrenica flüchten nach Potočari, ein Dorf nördlich der Stadt, und suchen Schutz auf dem Gelände einer stillgelegten Batteriefabrik, wo niederländische UN-Blauhelmtruppen stationiert sind. Nur ein paar Tausend Menschen finden Platz in der Schutzhalle. Eine überwältigende Menschenmenge muss vor den Gittern zum Gelände völlig schutzlos vor Terror und Hitze verharren. Im Lager herrschen prekäre, chaotische Umstände. Es gibt kaum Wasser und Nahrungsmittel, die Toiletten sind knapp, die medizinische Versorgung ist unzureichend, die Luft ist schlecht.

Zehntausende Menschen warten vor den Gittern zur UN-Schutzhalle. Screenshot

Zehntausende Menschen warten vor den Gittern zur UN-Schutzhalle. Foto: Screenshot

Immer wieder folgt die Kamera einer Frau, die atemlos durch die Masse hastet. Aida – grossartig gespielt von Jasna Đuričić – arbeitet als Übersetzerin, als Brücke zwischen zwei Welten: der Vereinten Nationen, symbolisiert durch ihr blaues Hemd, und der bosniakischen Zivilbevölkerung. Ihre harten Gesichtszüge verraten die Zerreissprobe, der sie ausgesetzt ist. Sie muss ihrem Volk Informationen der UN-Befehlshaber über ein Mikrofon übersetzen, die verheerende Auswirkungen auf ihr aller Leben haben. Auch sie ist eine Vertriebene, versucht ihre Familie, ihren Mann Nihad, ihre Söhne Hamdija und Sead, zu schützen.

Der Film basiert lose auf den Erlebnissen eines Überlebenden

«Quo Vadis, Aida» erzählt vom schwersten Kriegsverbrechen auf europäischem Boden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Film der in Berlin lebenden bosnischen Regisseurin und Drehbuchautorin Jasmila Žbanić ist gar der erste Spielfilm, der sich mit der Thematik beschäftigt. Beim Massaker von Srebrenica im Bosnienkrieg wurden 8372 Bosniaken, fast ausschliesslich Männer und Jungen, von der Armee der Republika Srpska unter der Führung des Generals Ratko Mladić (im Film gespielt von Boris Isaković) und serbischen Paramilitärs deportiert und ermordet. Dies, obwohl der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen 1993 Srebrenica als Schutzzone erklärt hatte, wodurch jeder Angriff untersagt worden war.

1995 fiel diese Schutzzone. Am 11. Juli nahm General Mladić die Stadt beinahe kampflos ein, die UNO-Blauhelmsoldaten und die bosniakischen Truppen leisteten kaum Widerstand. Der Film, der die wenigen Tage bis zur Katastrophe überwältigend beleuchtet, basiert lose auf den Erlebnissen eines Überlebenden, der als Übersetzer in der UN-Schutzzone gearbeitet hatte. Die Ästhetik des Films erinnert stark an einen Dokumentarfilm. Der bosnisch-serbische Soldat, der das Geschehen mit einer Handkamera filmt, verstärkt diesen Eindruck.

General der bosnisch-serbischen Truppen: Ratko Mladić. Screenshot

General der bosnisch-serbischen Truppen: Ratko Mladić (Boris Isaković). Foto: Screenshot

Frauen stehen im Zentrum

«Quo Vadis, Aida» ist kein typischer Kriegsfilm. Er zeigt das Grauen ohne explizite Gewaltszenen. Nicht die martialische Auseinandersetzung steht im Vordergrund. Bomben donnern im Hintergrund, Massenexekutionen werden nur angedeutet, Verwundete und Sterbende sieht man kaum. Der Film weicht auch von der dominierenden männlich-heroischen Kriegserinnerung ab und zeigt nicht die Kämpfer, sondern die Perspektive der Frauen, die in solchen Filmen oft marginalisiert werden. Der Fokus liegt auf einer Frau und ihrem Mut, ihrer Beharrlichkeit und ihrer Liebe und damit auf dem Schicksal der bosniakischen Familien, die auseinandergerissen wurden, auf dem Leid der Frauen, die zurückblieben. Kamerafrau Christine A. Maiers hat dafür den Deutschen Kamerapreis 2021 gewonnen.

Die Ruhe der Kameraführung, die Untätigkeit der Menschen aus Ohnmacht und Angst sind unerträglich, weil man weiss, worauf es unausweichlich hinausläuft. Ein paar wenige intime Szenen, die von Hoffnung und vergangenem Glück zeugen, lassen die Zeit still stehen und die Zuschauer*innen aufatmen. Konstant schwebt Anspannung im Ton, in den Bildern mit. Man wartet bang mit den Männern und Jungen auf ihre Deportation – wie Vieh, das zum Schlachthof gebracht wird, werden sie später auf die Busse verladen –, auf ihren Tod durch die bosnisch-serbischen Soldaten, dem sie nicht entrinnen können. Man kann das Trauma in seiner Schwere nur erahnen, dass die Frauen und Kinder erlebt haben müssen. Ihr Schicksal erschüttert zutiefst. Unzählige Familien wurden ausgelöscht, verbildlicht durch eine Szene, in der Aida Familienfotos zerreisst.

Welche Rolle haben die Vereinten Nationen?

Nahaufnahmen der Übersetzerin zeigen einen anklagenden Blick. Er gilt nicht nur den bosnisch-serbischen Soldaten. Während Ratko Mladić vom UN-Kriegsverbrechertribunal mittlerweile klar als Hauptverantwortlicher für das Massaker zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, ist die Rolle der niederländischen Blauhelmtruppen und die ihres Kommandanten Thom Karremans (Johan Heldenbergh) bis heute umstritten. Der Film thematisiert das Verhalten der Blauhelme prominent. «Ihr werdet dafür verantwortlich sein, wenn die Serben in die Stadt eindringen», sagt ein Bosniake ganz zu Beginn des Films zu Karremans. «Ich bin nur ein Pianist», erwidert dieser.

Immer wieder zeigen Szenen wie die Befehlshaber die Situation falsch einschätzen, strategische Fehlentscheidungen treffen. Sie wirken gleichgültig, teilnahmslos, teils fast unmenschlich durch ihre Befehle und strengen Gesichtsausdrücken, während General Mladić den Menschen glaubwürdig Hoffnung zuspricht und etwa Brot oder Toblerone-Schokolade verteilt, Nähe und Ruhe verkörpert. Die vermeintliche Humanität dieses gewöhnlichen Mannes rückt seine Taten allerdings in ein noch grausameres Licht. Auch die Blauhelme versprechen der Zivilbevölkerung Sicherheit, und liefern sie schliesslich Mladić aus.

Niemand kann sich ihrem Blick nicht entziehen: Aida, im Hintergrund ihre Familie. Screenshot

Niemand kann sich ihrem Blick nicht entziehen: Aida (Jasna Đuričić), im Hintergrund ihre Familie. Foto: Screenshot

Ihre vorgegebene Überlegenheit gegenüber den Zivilisten wird durch ihre Machtlosigkeit in den Verhandlungen mit dem General relativiert. Der Film zeigt, wie alles aus dem Ruder läuft, bis zur Eskalation, und auch die Blauhelme daran zerbrechen. Ihre Körperhaltung, die kurzen Hosen, die blauen Helme – sie wirken lächerlich neben den bosnisch-serbischen Truppen. Aber auch die Vereinten Nationen als Organisation versagen, die von Karremans per Telefon um Hilfe gebeten oder eindringlich zu NATO-Luftschlägen gegen die bosnisch-serbischen Truppen aufgefordert werden. Die Luftangriffe treffen nicht ein, der UN-Generalsekretär ist nicht zu sprechen. «Währenddessen muss ich diesem verdammten Monster gut zureden», sagt Karremans einmal.

«Quo Vadis, Aida» wirft damit die reale Frage nach Handlungsalternativen der niederländischen Militärs auf und der Duldung durch Nicht-Einschreiten. Hatten sie die Möglichkeit zu agieren, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen? Auch UNO-Soldaten waren damals Geiseln von General Mladić und man fürchtete ihre Ermordung. Wurden die stationierten Blauhelme von den Vereinten Nationen im Stich gelassen? Jasmila Žbanić zeigt mit dem Finger nicht nur auf die Individuen vor Ort, sondern flicht gekonnt auch andere Einschätzungen der Untersuchungen der Ereignisse ein, die die Schwierigkeit einer klaren Schuldzuweisung zeigen und auch die Vereinten Nationen als kollektives System für Frieden und Sicherheit in die Verantwortung nehmen.

Jahre später liegt Schnee. Das Land ist unberührt, im Frühling wird es neu erblühen. Aida kehrt nach Srebrenica zurück und arbeitet wieder als Lehrerin, wie sie es vor dem Krieg tat. Ihre Rückkehr zeugt von Vergebung und Befreiung. Das Ende bleibt allerdings offen. Schulkinder führen ein Stück auf. Darin verdecken sie wiederholt mit ihren Händen die Augen und öffnen sie wieder. Wenn die neue Generation heranwächst, wird sie ihre Augen vor den Verbrechen, die passiert sind, verschliessen, wie ihre Eltern es heute tun (das Leugnen von Völkermorden ist in Bosnien seit diesem Jahr strafbar), oder werden sie hinsehen, sich erinnern und darüber sprechen?

«Quo Vadis, Aida» von Jasmila Žbanić ist seit dem 5. August 2021 im Kino zu sehen.