Zwischenstopp bei der «Undine»: Sie ist eine der grössten Figuren Naegelis und entstand 1978. Heute steht sie unter Denkmalschutz. Kai Vogt

Der akzeptierte Störgeist

Harald Naegeli gilt als Zürichs erster Sprayer. Seine Werke brachten ihn ins Gefängnis, heute wird er verehrt. Ein geführter Spaziergang folgt seinen Figuren durch die Stadt.

18. Mai 2021

Die Linien sind schnell und schwungvoll gezogen, meist in Schwarz – schwarz, genauso wie die Kulisse, in der sie gesprüht wurden: In Nacht-und-Nebel-Aktionen entstanden in Zürich seit Ende der 1970er-Jahre unzählige skurrile filigrane Graffiti-Figuren, die von sich reden machten. Der Urheber wurde damals von der Polizei gesucht und war vielen als Vandale verhasst. Heute sind die Werke des Sprayers Harald Naegeli nicht mehr aus dem Stadtbild Zürichs wegzudenken. Eine Ausstellung im Musée Visionnaire zeigt nun erstmals umfassend das Schaffen des Künstlers und macht mit geführten Spaziergängen auf die Ästhetik seiner Graffitis aufmerksam. Heisst das, dass der einst anstössige und ausgefallene Naegeli nun als breit anerkannter Künstler angekommen ist?

Zwischen Kopfgeld und Denkmalschutz

An einem verregneten und kalten Sonntag finden sich überraschenderweise ein Dutzend Leute vor dem Musée Visionnaire im Niederdorf wieder. Sie alle haben einen Spaziergang gebucht, der sie zu den wichtigsten Werken Naegelis führen soll. Eine Aktion, die vor 40 Jahren noch undenkbar gewesen wäre. 1979 wurde von der Polizei ein Kopfgeld von 3000 Franken auf den «Sprayer von Zürich» ausgesetzt, im Juni gleichen Jahres fassten sie ihn. Zuvor hat Harald Naegeli zwei Jahre lang lustvoll und unerkannt sein Unwesen treiben können. Viele seiner markanten Figuren sind seither entweder absichtlich entfernt worden oder verblasst. Einige aber blieben bestehen und wenige wurden sogar unter Denkmalschutz gestellt. Ein Beispiel dafür ist eine sich seitwärts in die Länge schlängelnde, weiblich aussehende Figur, die sich auf der hinteren Wand des Deutschen Seminars befindet. Sie entstand 1978 und werde im Volksmund als «Undine» bezeichnet, erklärt Meret Alexa Draeyer, administrative Leiterin des Musée Visionnaire und heutiger Guide der Naegeli-Führung. «Das Graffiti wurde 2004 von der Baudirektion des Kantons mit Schutzlack versehen. Bei vielen anderen Figuren hat sich jedoch dieselbe Direktion fürs Wegmachen entschieden», so Draeyer weiter. Dieser Umgang mit den Naegelis ist zwar inkonsequent, zeigt aber trotzdem, dass seit dem Zeitpunkt seiner Festnahme ein Wertewandel stattgefunden hat.

Aussergerichtliche Lösung mit der Stadt

1981 wurde Naegeli vom Zürcher Bezirksgericht zu einer neunmonatigen Haftstrafe verurteilt, von denen er vier Monate im Hochsicherheitstrakt in Winterthur absass. Aus politischen Gründen kehrte der Rebell der Schweiz darauf dauerhaft den Rücken und liess sich in Düsseldorf nieder. Mit dem Aufkommen der Hip-Hop-Kultur wurde Strassenkunst geläufiger und so änderte sich auch der Blick auf die Werke Naegelis, der zwischendurch trotz seines neuen Wohnorts immer wieder Spuren in Zürich hinterliess. Nachdem er 2018 ein weiteres Mal angeklagt wurde, fand er mit der Stadt eine «aussergerichtliche Lösung»: Anstatt 9'000 Franken Bussgeld wegen Sachbeschädigung zahlen zu müssen, bereinigte Harald Naegeli die Angelegenheit mit einer Schenkung seiner Bilder an die Stadt. 2020 erhielt er den Kunstpreis der Stadt Zürich.

Trotz seiner Bekanntheit verschwinden Naegelis Graffitis regelmässig von Zürichs Wänden. Kai Vogt

Trotz seines heutigen Prestiges verschwinden Naegelis Graffitis noch immer regelmässig von Zürichs Wänden und für neue Werke flattern immer noch Briefe der Justiz bei ihm rein. Während des Lockdowns 2020 seien 50 neue Naegelis in der Stadt Zürich aufgetaucht, sagt Meret Alexa Draeyer. «Nur circa 15 davon bestehen noch.» Eines davon ist der «Totentanz» an der Turnhalle Rämibühl, eine weitere Station des Spaziergangs. Die Strichfigur symbolisiert einen Sensenmann, ein gängiges Motiv Naegelis. Ein ähnliches Bild platzierte der Provokateur auf dem Hans-Waldmann-Denkmal, gleich beim Zürcher Stadthaus. Dieses sei aber nicht von der Stadt oder dem Kanton, sondern von anonymen Privatpersonen am helllichten Tag weggeputzt worden, so Draeyer. Als Gegenaktion habe überall dort, wo Naegelis verschwanden, eine andere Person Blümchen in Glasfläschchen hingestellt. Dies zeigt, wie die Figuren noch immer polarisieren – zwischen pedantischem Sauberkeitsbedürfnis und tiefer Liebe zur Strassenkunst.

Grösste Naegeli-Sammlung wird saniert

Der Pulk der Naegeli-Interessierten zieht weiter, der Regen legt sich. Einer der letzten Stationen des Spaziergangs ist die ETH-Garage. Sie bietet das grösste noch erhaltene Figurenensemble Naegelis im öffentlichen Raum. Über 40 seiner poetischen Sprayereien kann man hier noch bewundern, vom gehenden Fisch bis zur Frau an der Türe. Aber nicht mehr lange: Der Garage steht eine Sanierung bevor. Zwar wird versucht, möglichst viele der Strich-Figuren zu retten, doch für einige wird die Renovation den Tod bedeuten. Um die Werke wenigstens digital zu erhalten, hat das Musée Visonnaire eine Website mit Stadtkarte erschaffen, auf der alle seine Graffitis mit Ortsangabe verzeichnet sind. Die Karte kann individuell ergänzt werden. Das Projekt weist darauf hin, dass die Werke Naegelis heute so viel Wertschätzung erhalten wie noch nie. Auch die Ausstellung im Musée Visionnaire, die zum ersten Mal private Zeichnungen des Zürchers zeigt, erhält grosse Aufmerksamkeit. Die Zeit hat sich bewegt, oder er vielleicht die Zeit? Und auch wenn seine Kunst an einigen Orten noch immer aneckt, hat Naegeli sich eine Sonderstellung ermalt, von der andere Sprayer*innen nur träumen können.