Während der ersten Corona-Welle waren mehr junge Helfende im Einsatz. Remo Nägeli

«Wer Hilfe sucht, findet sie noch immer»

Gesellschaftliche Solidarität nimmt in der zweiten Welle andere Formen an.

8. März 2021

Vom Applaudieren fürs Pflegepersonal bis zum Lebensmitteleinkauf für die Nachbar*innen: Während der ersten Welle der Pandemie lag solidarisches Handeln im Trend. Von solch einem Solidaritäts-Hype kann heute nicht mehr die Rede sein. Begriffe wie «Pandemiemüdigkeit» oder «Corona-Blues» haben sich in den Vordergrund gedrängt. Inwiefern die gegenseitige Unterstützung noch im Stillen hochgehalten wird, lässt sich unter anderem anhand von Daten von Hilfsplattformen wie Amigos oder Hilf-Jetzt beurteilen.

Weniger Helfende als letztes Jahr

«Die erste Welle war wirklich eine einmalige Situation. Es gab sogar zu viel Hilfe und zu wenig Leute, die Hilfe benötigten», erklärt Carine Fleury Bique vom Schweizerischen Roten Kreuz (SRK), die unter anderem Hilf-Jetzt betreut – das bekannteste Vernetzungsportal der Schweiz für Corona-Betroffene und freiwillige Helfende. Die Gruppen, die sich auf der Plattform bildeten, seien heute weniger aktiv als im Frühling, so Fleury Biquet weiter. Auch die Anmeldezahlen hätten sich stabilisiert. Bei Amigos, einer Plattform für Nachbarschaftshilfe der Migros, haben sich die Helfenden in der ersten Welle die Aufträge «regelrecht aus den digitalen Händen gerissen», wie Amadeus Petrig, Leiter und Initiant des Projekts, erzählt. Dies sei in der zweiten Welle weniger oft der Fall, trotzdem sei die Solidarität immer noch sehr präsent. Bei beiden Hilfsplattformen liess sich im Laufe der Pandemie eine klare Korrelation zwischen der Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung und der Härte der Massnahmen des Bundes festellen: «Im Sommer 2020 wurden nur noch sieben von zehn Aufträgen angenommen, die anderen mussten dann selber einkaufen», so Petrig. Dies hätte damit zu tun, dass die Leute die Situation selber nicht mehr als kritisch empfunden haben. So sei das Fundament der Solidarität immer eine Interpretation der aktuellen Situation, erklärt der studierte Psychologe.

Andere Altersgruppen im Einsatz

Bemerkenswert ist auch, dass bei Amigos ein markanter Altersunterschied zwischen den Helfenden in der ersten Welle und denen in der zweiten festgestellt wurde. Im Frühling waren es viele Junge, durchschnittlich zwischen 18 und 25 Jahren alt, die über Amigos für die Risikogruppen eingekauft haben. Diese Gruppe wurde in der zweiten Welle von 30- bis 40-Jährigen ersetzt. «In der ersten Welle wurde das Helfen mehr als Selbstzweck benutzt – man könnte es auch als Hipster-Solidarität bezeichnen», kommentiert dies Amadeus Petrig. Erklären liesse sich diese Veränderung aber auch dadurch, dass die Eltern der momentan Helfenden zur Risikogruppe gehören und sich diese Generation deswegen verantwortlicher fühle. Im Vergleich zu praktischer solidarischer Hilfe haben Spendenzahlen bei Hilfsorganisationen wie der Caritas oder der Dargebotenen Hand in der zweiten Welle der Pandemie nicht abgenommen. Während es bei der Dargebotenen Hand «keinen Einbruch» der Spendenzahlungen gab, konnte die Caritas Ende 2020 sogar «besonders hohe Spendeneinnahmen» verbuchen, wie es auf Nachfrage heisst. Auch die Solidarität in der Gesellschaft wird von der Caritas noch dementsprechend hoch eingeschätzt. Anders beurteilt es Amadeus Petrig: «Die Daten sprechen für eine gewisse ‹Solidaritätsmüdigkeit›, aber es ist sicher nicht ein Tiefschlaf.» Auch Carine Fleury Bique sieht es ähnlich: «Die Solidarität hat abgenommen. Aber wichtig ist: Wer Hilfe sucht, findet diese noch immer!»