«Gute Prüfungen zu gestalten, ist sehr anspruchsvoll»
Welchen Platz haben Prüfungen in unserem Bildungssystem? Erziehungswissenschaftlerin Katharina Maag Merki im Interview.
Frau Maag Merki, die Prüfung ist seit Jahrhunderten ein zentrales Instrument der Bildung. Wieso ist sie so wichtig?
Bildungssysteme haben unterschiedliche Funktionen. Eine davon ist die Qualifikationsfunktion, das heisst die Förderung der Kompetenzen und Motivationen von Menschen. In diesem Fall sollen Prüfungen den Schüler*innen eine Rückmeldung geben – dazu, was sie gut können, was weniger gut und wo der nächste Entwicklungs- oder Lernfortschritt passieren müsste. Eine zweite ist die Selektionsfunktion. Dabei geht es um die Entscheidung: Welche Schüler*innen oder Studierende erbringen bessere und welche schlechtere Leistungen und was berechtigt jemanden, in bestimmte weiterführende Bildungsgänge überzutreten? Es gibt Bildungssysteme, die in den ersten Schuljahren weniger die Selektionsfunktion gewichten und andere, die schon früh selektiver ausgerichtet sind. Bei den Schweizer Bildungssystemen ist der selektive Modus zentral.
Sollte man junge Schulkinder schon benoten?
Es ist für alle Menschen sehr verführerisch, eine Zahl zu sehen, weil sie eine ganz einfache Botschaft gibt. Aber wenn die Rückmeldung wirklich lernrelevant sein soll, dann reicht das nicht und kann sogar kontraproduktiv sein. Es braucht eine Begründung. Zudem besteht die Gefahr, dass eine Note die Freude am Lernen beeinträchtigt, zum Beispiel, wenn sich jemand sehr viel Mühe gegeben hat, das Resultat aber doch schlecht ausfällt. Diese Gefahr ist natürlich immer gegeben, besonders bei jungen Schulkindern.
An Unis gibt es seit dem Start des Bologna-Prozesses mehr Prüfungen. An was liegt das? Was will man damit bewirken?
Die Grundidee von Bologna ist die der Vergleichbarkeit mehrerer Universitäten, also dass ein Bachelor in einem Fach an der Universität Zürich der gleiche Abschluss ist wie an einer anderen Universität. Dazu braucht es eine Grundlage. Die Leistungsnachweise bei den einzelnen Modulen über das gesamte Studium hinweg sind Bausteine, um dieses Ziel zu erreichen. Ausserdem sind Prüfungen einfach hilfrWeich, wenn man bestimmte Entscheide bezüglich Selektion der Studierenden fällen muss. Wenn es aber darum geht, fachliche Leistung zu fördern, dann ist ein Notensystem, das sehr stark auch auf Vergleiche ausgerichtet ist, nicht wirklich gerecht. Weil es dann nämlich sehr darauf ankommt, wie leistungsstark die Gruppe, zum Beispiel ein Jahrgang, ist. Auch muss man sich immer fragen, wie valide, also wie inhaltlich präzise man mit Prüfungen tatsächlich die guten und schlechteren Studierenden identifizieren kann. Gute Prüfungen zu machen, ist sehr anspruchsvoll.
Es gibt ja verschiedene Arten von Prüfungen. Welche bewähren sich am besten? Kann man an den Prüfungssituationen und -arten an Unis etwas verbessern?
Ich finde gut, dass es verschiedene Arten gibt, weil man mit jedem Typus andere Aspekte erfassen kann. Wenn ich zum Beispiel die wissenschaftlichen Fähigkeiten von Studierenden prüfen will, dann kann ich kaum einen guten Multiple-Choice-Test machen. Da braucht es eine Arbeit oder ein Journal, wo die Studis den Argumentationszusammenhang darlegen müssen. Will man Sachwissen prüfen, dann ist ein Multiple-Choice-Test durchaus funktional, aber es gibt natürlich grosse Unterschiede – einen guten Multiple-Choice-Test erstellt man nicht auf die Schnelle. Mündliche Prüfungen und Kolloquien sind ebenfalls wichtige Prüfungsformen. Die Qualität der einzelnen Instrumente ist dabei aber sehr wichtig.
Und Sie finden, dass die verschiedenen Prüfungsarten an Unis sinnvoll gewichtet werden?
Das kann ich nicht für die ganze Uni beantworten. Dafür möchte ich aber auf die Vergleichbarkeit eingehen. Denn bei einer Notengebung ist immer eine sehr subjektive Perspektive dabei. Trotzdem ist es letztlich wichtig, dass eine Leistung, die an einem Ort gut bewertet wurde, auch am anderen Ort eine gute Leistung ist. Ich habe meine Zweifel, ob das tatsächlich funktioniert. Es wäre wichtig, dass es dazu fachspezifische Diskussionen gibt und man sich gemeinsam unter Dozierenden fragt, was eigentlich unsere Standards sind, was zum Beispiel eine gute schriftliche Arbeit ist und was eine ungenügende.
Leiden teilweise Kreativität und geistige Freiheit unter dem vielen Prüfen? Wird zwar besser ausgebildet, aber weniger zum Selberdenken, Ausprobieren und individuellen Entwickeln ermutigt?
Sobald man etwas messbar machen will, gibt es eine Eingrenzung. Für das Aufbauen eines möglichst guten Systems in einem Bereich muss aber gewährleistet sein, dass die fachliche Breite tatsächlich abgedeckt ist, dass also innerhalb von einem Fach nicht nur einzelne Aspekte im Zentrum stehen, die einfacher zu messen oder zu erfassen sind. Was die Kreativität und die geistige Freiheit angeht: Das ist eine sehr spannende Diskussion. Woran sieht man denn kreatives Denken? Das müssen gerade wir als Universität uns immer wieder fragen. Reproduzieren wir einfach Wissen oder bieten wir auch eine Basis, um innovative Denkentwicklungen zu unterstützen?
Wie steht es mit der psychischen Gesundheit bei zu vielen Prüfungen, zu wenig Zeit und zu hohem Leistungsdruck? Muss eine Prüfung auch ein Belastungstest sein?
(Lacht.) Es kommt darauf an, was man testen will. Man möchte bei Prüfungen schon auch eine gewisse Flexibilität und ein gewisses Tempo in der Nutzung von Wissen sehen. Die Menge der Prüfungen ist ein ungelöstes Problem, weil alle den gleichen Semesterablauf haben. Da weiss ich nicht, wie man das lösen kann. Das Dritte ist die Qualität der Prüfungsvorbereitung. Es kann nicht unser Ziel sein, dass die Studierenden sich quasi Kurzfutter reinstopfen müssen, damit sie es kurz danach reproduzieren können, nur um es dann schnell wieder zu vergessen. Ein Weg mit Potential wäre etwa, weniger Leistungsnachweise zu machen, dafür aber solche, in denen komplexe wissenschaftliche Fähigkeiten im Zentrum stehen.
Was denken Sie zum Thema Chancengleichheit im Bildungssystem? Kinder aus Migrationsfamilien und solche mit bildungsfernem Hintergrund sind nach wie vor unterrepräsentiert, wenn es um schulische und akademische Leistungen und Bildungserfolg geht.
Ja, da haben wir als Gesellschaft ein grosses Defizit. Unser Bildungssystem ist zu stark so aufgebaut, dass vor allem die Kinder profitieren, die zuhause von ihren Eltern direkt unterstützt werden können. Man muss an vielen verschiedenen Stellen über die Bücher gehen, damit die anderen Kinder nicht zwischen Stuhl und Bank fallen. Eines der Probleme ist die Form unseres selektiven Systems, wo zum Beispiel Lehrpersonen und Eltern darüber entscheiden, ob das Kind ins Gymnasium darf oder nicht. Schüler*innen mit Eltern, die selber die Universität besucht haben, haben eine weitaus höhere Chance, dieses Ziel zu erreichen, ohne unbedingt bessere Leistungen zu erbringen. Das Problem setzt sich dann im universitären Kontext indirekt fort.
Wie sehen Sie die Situation während Corona? Studierende können teils nicht an Präsenzprüfungen teilnehmen, da sie in Quarantäne sind, oder wollen wegen der Risken nicht hingehen. Andererseits ist es schwierig, bei Online-Prüfungen das Betrügen zu verhindern.
Grundsätzlich ist der gesundheitliche Aspekt natürlich sehr wichtig und ich finde es gut, wenn Prüfungen online durchgeführt werden. Die Relevanz von Präsenzprüfungen sehe ich persönlich nicht. Wirklich relevant ist bloss die Qualität der Prüfungen. Wenn ich nur Reproduktionswissen abfrage, dann ist eine Online-Prüfung tatsächlich problematisch. Wenn Studierende sehr gut organisiert sind, dann führt das zu einer kollektiven und nicht zu einer individuellen Leistung. Aber wenn ich Online-Prüfungen so aufbaue, dass Studierende argumentieren und etwas darlegen müssen, das sie nicht einfach schnell googeln oder in Lexika nachschauen können, dann ist diese Form für mich absolut valide.