«Wir sind nicht einsamer als früher»
Was ist Einsamkeit?
Einsamkeit wird definiert als ein subjektiv empfundenes Defizit in den eigenen sozialen Beziehungen. Dieses Defizit kann sich auf die Anzahl von engen Bezugspersonen beziehen, aber vor allem auch auf die Qualität der Beziehung. Wer einsam ist, empfindet diese als nicht eng oder intim genug. Davon klar abzugrenzen ist soziale Isolation. Es kommt häufig vor, dass eine Person sehr viele Freunde und Bekannte hat und sich trotzdem getrennt fühlt von den anderen. Umgekehrt kann es sein, dass sich eine Person mit ganz wenigen Freunden überhaupt nicht einsam fühlt.
Gibt es gar keine Korrelation zwischen Einsamkeit und Isolation?
Es gibt schon schwache Korrelationen, etwa zwischen der Netzwerkgrösse einer Person und Einsamkeit. Das sind aber eben ganz schwache Zusammenhänge, die nicht darauf hindeuten, dass soziale Isolation und Einsamkeit genau das Gleiche sind. Man findet auch im Hinblick auf gesundheitsbezogene Konsequenzen ein paar Unterschiede. In vielen Studien wird soziale Isolation ausserdem über Netzwerkgrösse oder Kontakthäufigkeit operationalisiert und mit Einsamkeit kombiniert. Wenn man dann Voraussagen macht, zum Beispiel zu Entzündungsmarkern im Blut, findet man, dass Einsamkeit auch über soziale Isolation hinaus noch etwas vorhersagen kann. Man kann die beiden Dinge also sowohl konzeptuell als auch empirisch voneinander abgrenzen.
Gehört Einsamkeit nicht einfach zum Leben dazu? Beziehungsweise: Ab wann ist sie krankhaft?
Jeder Mensch kennt Einsamkeit. Oft ist sie nur vorübergehend, etwa wenn man sich etwa von einem oder einer Freund*in getrennt hat oder frisch umgezogen ist und sich in der neuen Stadt noch überhaupt nicht auskennt. Das ist meistens nicht weiter problematisch. Dann gibt es aber Menschen, die sich chronisch einsam fühlen, relativ unabhängig von den Lebensumständen. Einsamkeit an sich ist aber keine Störung, es gibt keine Diagnose und keine etablierte Therapie dafür.
Lässt sich Einsamkeit im Körper nachweisen?
Auf jeden Fall, allerdings eher auf unspezifische Weise. Man kann sich nicht einfach Biomarker angucken und sagen: Diese Person ist einsam. Man weiss aber, dass Einsamkeit einher geht mit einer chronisch erhöhten Aktivität der Stressachse im Körper. Einsam sein ist also stressig. Man findet ausserdem, dass bestimmte Empfindungsmarker im Blut erhöht sind und einsame Personen besonders sensibel auf Bilder von sozialen Situationen reagieren, die zum Beispiel Ausgrenzung, Bedrohung oder Ablehnung signalisieren.
Es gibt Studien, die zeigen, dass sich viele Leute einsam fühlen, erstaunlicherweise vor allem junge Leute. Woran liegt das?
Das ist eine schwierige Frage. Oft ist im jungen Erwachsenenalter noch sehr viel in Bewegung und man muss sich immer wieder in neue Kontexte und neue Rollen einfinden. Es gibt eine Studie aus unserer Abteilung, die zeigt, dass mit zunehmender räumlicher Distanz auch die emotionale Nähe zu Bekannten, Freund*innen und Netzwerkpartner*innen allgemein abnimmt. Das könnte sich letztendlich in Einsamkeit niederschlagen. Auch sind Beziehungen im jungen Erwachsenenalter eher flüchtig.
Im Moment wird ja viel über das Problem «Social Media» gesprochen – junge Leute würden deswegen vereinsamen. Stimmt das?
Es wird gerade viel darüber geforscht, aber wir haben noch nicht genug Daten. Es gibt die Theorie, dass der Effekt in beide Richtungen geht. Eine Studie aus den Niederlanden, die noch in Entstehung ist, zeigt, dass Personen, die im Lockdown vermehrt Social Media genutzt haben, weniger einsam waren. Umgekehrt nutzten aber einsamere Menschen tatsächlich seltener soziale Medien. Ich glaube, da kommt noch viel Forschung auf uns zu.
Was kann Einsamkeit langfristig für Folgen haben – psychisch und körperlich?
Psychisch ist Einsamkeit vor allem ein grosser Risikofaktor für Depressionen. Ausserdem haben einsame Menschen tendenziell eine geringere Lebens- und Beziehungszufriedenheit. Zu physischen Konsequenzen ist auch viel gezeigt worden: zum Beispiel die erhöhte Stressaktivität im Körper und alles, was mit Stressfolgen zu tun hat. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, verminderte Schlafqualität und stärkerer kognitiver Abbau im Alter, bis hin zu einem erhöhten Demenzrisiko. Zuletzt hat eine grosse Metaanalyse gezeigt, dass Einsamkeit mit einer früheren Sterblichkeit verbunden ist. Man sagt, chronische Einsamkeit sei so gefährlich, wie 50 Zigaretten am Tag zu rauchen.
Der deutsche Psychiater Manfred Spitzer sieht Einsamkeit als eine Epidemie. Denken Sie auch, dass Einsamkeit in den letzten Jahren und Jahrzehnten zugenommen hat?
Nach allem, was wir wissen, sind die Menschen heute nicht einsamer als die vor zehn bis 30 Jahren. Bei Kindern scheint Einsamkeit stabil zu sein. Bezüglich des jungen Erwachsenenalters habe ich mit Berufskolleg*innen eine Metaanalyse durchgeführt und gefunden, dass Einsamkeit bei Menschen zwischen 18 und 30 in den letzten 43 Jahren in den USA zwar angestiegen ist, in Europa und Asien zum Beispiel aber nicht. Für das höhere Erwachsenenalter bleibt Einsamkeit auch stabil oder nimmt sogar ab. Eine grosse Ausnahme ist China, da gibt es mehrere Altersgruppen, in denen Einsamkeit drastisch zugenommen hat.
Haben Anfragen bei psychologischen Diensten aufgrund der Corona-Krise zugenommen?
Man hört ganz Verschiedenes, was das angeht. Aus deutschen Studien wissen wir, dass Einsamkeit im Durschnitt nicht zugenommen hat. Es gab zwar einen leichten Anstieg in den ersten zwei Wochen des Lockdowns, dann aber wieder einen Rückgang zum Ausgangsniveau. Allerdings waren bestimmte demografische Gruppen von der Einsamkeit besonders betroffen, vor allem alleinerziehende Mütter und jüngere Menschen. In den USA ist laut einer Studie das Gefühl von sozialer Unterstützung gestiegen.
Wie kann man mit Einsamkeit umgehen? Gibt es spezielle Therapieformen oder Dinge, die man selber machen kann, um sich aus der Einsamkeit zu befreien?
Bei gewöhnlicher, vorübergehender Einsamkeit sollte man andere Leute kontaktieren, wenn möglich Menschen, die man schon kennt, um eine tiefe Beziehung wiederaufzubauen. Bei chronischer Einsamkeit ist es natürlich ein bisschen schwieriger, da sie oft im Zusammenhang mit Schüchternheit, geringer Geselligkeit und einer höheren Ängstlichkeit steht. Für solche Menschen ist es weniger leicht, in Kontakt zu kommen. Das heisst im Umkehrschluss aber nicht unbedingt, dass es etwas bringt, mehr Begegnungsstätten zu schaffen. Psychotherapie hilft bei Einsamkeit am besten. Man kann jedoch nicht wegen Einsamkeit in die Psychotherapie gehen, weil es eben keine Diagnose ist. Wenn jemand wirklich extrem einsam ist, ist sein Zustand meistens sowieso sehr nah an einer Depression und man würde dann eher diese behandeln. Ansonsten können Hilfetelefone ein erster Schritt sein.
Muss man das Thema auch politisch gesellschaftlich angehen? Wenn ja, wie?
Ich bin mir nie ganz sicher, was eine politische Institution auf hoher Ebene tatsächlich bewirken kann, weil Einsamkeit eben in den Köpfen der Menschen stattfindet. Die Politik könnte aber Initiativen regional und landesweit dauerhaft finanzieren, sodass diese nicht ständig um das Überleben kämpfen müssen. Ausserdem könnte man – wie es das «Ministry of Loneliness» im Vereinigten Königreich macht – Kampagnen starten, um das Phänomen zu entstigmatisieren.