Mehr Begegnungszonen in unseren Städten könnten helfen, Einsamkeit einzudämmen. Stephanie Caminada

Wie gehen wir mit Einsamkeit um?

Sie ist so alt wie die Gesellschaft selbst. Die Auseinandersetzung mit dem Gefühl Einsamkeit könnte neue Perspektiven vertragen.

29. November 2020

Der berühmte Soziologe Georg Simmel wies bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf die gesellschaftlichen Veränderungen hin, die Verstädterung und Individualisierung mit sich bringen. Im engen Raum der Städte erlernen wir Vermeidungsstrategien, statt aufeinander zuzugehen: Auf der Strasse, im Zug, im Lift und in der Bibliothek geht es in erster Linie darum, sich unbemerkbar zu machen. 2005 widmete die Caritas ihr Jahrbuch zur sozialen Lage der Schweiz dem Themenschwerpunkt der Einsamkeit.

Auch die Trennung von Arbeits- und Wohnort, die Entstehung der Kleinfamilie, die Separation der Generationen sowie die hohe soziale und geografische Mobilität haben Einsamkeit begünstigt, heisst es im Caritas-Jahrbuch. Zudem stieg über die letzten Jahrzehnte die Anzahl Einzelhaushalte an, ebenso wie die Scheidungsziffer, es gibt verhältnismässig immer mehr alte Menschen, und von diesen altern immer mehr alleine, wird ergänzt. Gleichzeitig zeigen Studien, dass auch viele junge Menschen von Einsamkeit betroffen sind und im Durchschnitt immer weniger enge Bezugspersonen haben.

Fluch und Segen zugleich

Niemand kann «die Einsamkeit bleiben lassen», schreibt der deutsche Philosoph Odo Marquard. Die Tatsache, dass wir alle sterben müssen, macht sie zu einem fundamentalen Bestandteil unseres Lebens. Deshalb lohnt es sich, «Einsamkeitsfähigkeit» zu lernen. Das Alleinsein kann dabei durchaus selbst gewählt sein und Vorteile haben, es erlaubt nämlich Kreativität und Reflektion. So verbrachte etwa Jean- Jacques Rousseau die glücklichsten Momente seines Daseins auf der St. Peterinsel im Bielersee. Er zog sich in die Natur zurück, suchte die Einsamkeit und schrieb später die «Träumereien des einsamen Spaziergängers».

Als Problem tritt die Einsamkeit erst in Erscheinung, wenn sie nicht selbst gewählt ist. So definiert die Soziologie als Ursachen für die Einsamkeit üblicherweise Unterprivilegierung, Diskriminierung, Milieuverlust und Stigmatisierung. Kein Wunder, dass Einsamkeit gerade in der Migrationsforschung ein aktuelles Thema ist. Jean-Jacques Rousseau hatte wohl kaum mit Unterprivilegierung und Milieuverlust zu kämpfen. Auf die derzeitige Corona-Krise mit ihren Lockdowns lassen sich diese Begriffe durchaus auch anwenden: Wir alle sind den einschränkenden Massnahmen unterstellt, mit denen der Verlust gewisser Rechte, Privilegien und Freizeitbeschäftigungen einhergeht, zusammen mit einem Milieuverlust, der sich nur schwer digital kompensieren lässt.

Derzeit sind viele damit konfrontiert, dass von ihrer Alltagsstruktur nur noch die Arbeit übrigbleibt. Beim Krisenmanagement überwiegen wirtschaftliche Interessen. Das ist nicht nur schlecht. Doch für eine Gesellschaft braucht es eben nicht nur Arbeit, sondern auch: Gesellschaft. Einsamkeit entsteht nie aus einem einzelnen Faktor, sondern aus der Kombination verschiedener Faktoren. Der reduzierte Alltag während der Pandemie kann somit das Fass zum Überlaufen bringen und Einsamkeit auslösen. Zudem verstärkt die Pandemie Prekarisierung: Die erschwerten wirtschaftlichen Bedingungen führen zu Armut, und Armut hängt wesentlich mit Einsamkeit zusammen. Darauf weisen diverse Studien hin.

Wege aus der Einsamkeit

Einsamkeitsgefühle sind zwar kein neues Phänomen, doch der mediale Diskurs hat sich seit Beginn der Pandemie stark zugespitzt. So wird Einsamkeit vermehrt auch als «Volkskrankheit» oder gar «soziale Epidemie» bezeichnet. Ob aber Einsamkeit gesamtgesellschaftlich tatsächlich zunimmt, ist noch umstritten. Das Gefühl wird zwar oft als individuelles Leiden oder gar als Krankheit bezeichnet, ist aber auch ein soziales und politisches Phänomen. So argumentieren vermehrt Expert*innen, etwa der Medizinhistoriker und Journalist Jakob Simmank in seinem Buch «Warum wir aus einem Gefühl keine Krankheit machen sollten», dass es sich bei Einsamkeit um eine soziale Frage handelt. Dessen Einstufung als Krankheit erschwere die Erkennung der sozialen Umstände als zugrundeliegende Problematik.

Die Lösungsansätze für Betroffene sind zahlreich: Selbsthilfegruppen und Onlineforen sollen Abhilfe schaffen. Zahlreiche Artikel empfehlen Vereine, Social-Media-Entzug, Freiwilligenarbeit oder neue Hobbys. Aber auch Unterstützung von Therapeut*innen, Familienmitgliedern oder Telefonhotlines werden nahegelegt. Wege aus der Einsamkeit scheinen also weitgehend über Eigeninitiative zu führen.

Das Problem wird aber vermehrt auch auf politischer Ebene als solches anerkannt. 2018 wurde in Grossbritannien die erste «Einsamkeitsministerin» einberufen, in Österreich ist derzeit ein «Pakt gegen Einsamkeit» in Planung. Auch im Schweizer Parlament verlangen bereits erste Vorstösse, die «soziale Isolation als gesellschaftliches Phänomen politisch anzugehen». Der Bundesrat empfiehlt jedoch die Ablehnung des Postulats. Dies mit der Begründung, es seien bereits «zahlreiche Massnahmen Teil diverser Aktivitäten des Bundes». So verweist er auf die bestehende aktive Unterstützung von Organisationen wie dem Netzwerk Psychische Gesundheit Schweiz, Pro Senectute oder der Nationalen Plattform gegen Armut. Aber reicht das aus? Müsste Einsamkeit als Resultat gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen nicht auch auf systemischer Ebene bekämpft werden?

Ein systemisches Problem

Simmank plädiert für eine systemische Herangehensweise. Ein Paradigmenwechsel, darunter auch die allgemeine Reduktion der Arbeitszeit, sei nötig: Dies erlaube es, Zeit in eine intensivere Pflege von sozialen Netzwerken zu investieren, und ermögliche mehr Freiwilligenarbeit. Aber auch andere konkrete Massnahmen wie die Aufwertung von Care-Arbeit seien eine Möglichkeit. Pflegebedürftige und Pflegende würden damit entlastet, denn diese leiden überproportional oft an Isolation. Ob es um den Umgang mit der Pandemie geht, die Wohnsituation oder unsere Arbeits- und Lebensbedingungen: Für all diese Fragestellungen gibt es Ansätze, welche Gemeinschaft stiften und Einsamkeit verringern. Einer der Vorschläge, der nach der Pandemie wohl zeitnah umsetzbar wäre, ist die Schaffung von Begegnungszonen. Denn dieser Lösungsansatz kann auf lokaler Ebene und von unten aufgezogen werden.

Begegnungszonen entschleunigen das Stadtleben und führen zu mehr Vernetzung. Konkreter setzt die Dienstabteilung Verkehr der Stadt Zürich bereits erste Formen von Begegnungszonen um. Es handelt sich dabei vor allem um Quartierstrassen. Unabhängig von städtischen Initiativen gibt es in Zürich auch andere Beispiele wie den auofreien Bullingerplatz oder öffentliche Spielplätze. Das sind zwar nur kleine Schritte, sie setzen aber am richtigen Punkt an. Von dort aus lassen sich Szenarien von autofreien Strassen, grünen Parks, öffentlichen Sportanlagen und belebten Gemeinschaftszentren weiterspinnen. Und gerade jetzt, wo wir uns so weit wie möglich von Begegnungszonen fernhalten sollten, gilt es diese neu zu denken.