Dieser Zirkus braucht kein Zelt
Der zeitgenössische Zirkus auf dem Koch-Areal bietet ein breites Angebot für Jung und Alt. Bald läuft die Zwischennutzung aus.
Das Gelände des Zirkusquartiers liegt in der Abendsonne von Altstetten. Einige sitzen bei einem späten Z’Nacht ums Feuer, andere widmen sich bereits plaudernd dem Abwasch. Nichts in dieser angenehmen Spätsommerstille deutet darauf hin, dass hier tagsüber Menschen tanzen, lachen, schauspielern und trainieren.
Zwischen Zirkus, Theater und Tanz
Das Zirkusquartier auf dem Koch-Areal ist ein öffentlich zugänglicher Ort, an dem zeitgenössischer Zirkus gelebt und gefördert wird. Doch statt sich der Welt mit grossem Zelt und Sägespänen zu präsentieren, schmiegen sich Zirkuswagen an die verwachsenen Scheunen und eine alte Industriehalle dient als Übungsraum. Eine etwas ungewöhnliche Umgebung für einen Zirkus, könnte man meinen. «Doch schliesslich machen wir auch keinen Zirkus, sondern zeitgenössischen Zirkus», erklären Sebastian Henn und Caroline Mazenauer, die als Gesamtleiter respektive kaufmännische Leiterin für das Zirkusquartier tätig sind. Was aber macht einen Zirkus zeitgenössisch? «Diese Frage ist eine der umstrittensten», erklärt Sebastian lachend. Einige betonten Elemente aus Tanz und Theater, andere die Nähe zum Zirkus. Oft genannt werde lediglich ein Aspekt, der den zeitgenössischen Zirkus von klassischen unterscheiden soll: das Vorhandensein eines Narrativs.
Obwohl man über solche Spitzfindigkeiten ein wenig schmunzeln könnte, reflektieren sie dennoch eine fundamentale Grundproblematik: Zeitgenössischer Zirkus fällt zwischen Stuhl und Bank, wenn es um die Vergabe von Fördergeldern geht. So beklagt Sebastian, dass sie «am ehesten der Sparte Theater zugeordnet werden, dann jedoch als erstes aus der engeren Auswahl fallen, weil wir dieser im Kern doch zu wenig entsprechen». Das Quartier ist deshalb auch zu einem grossen Teil eigenfinanziert; das Kursangebot stellt derzeit die Haupteinnahmequelle dar.
Perspektiven schaffen
Doch fehlende finanzielle Mittel sind nur eine von vielen Hürden, mit denen sich Zirkusschaffende konfrontiert sehen. Caroline ergänzt, dass es «an sehr vielen Stellen mangelt, vor allem jedoch an geeigneten Produktions- und Spielstätten». Der auf Nachwuchsförderung fokussierte Zirkus Chnopf ist sich diese Missstände besonders bewusst. Er war es auch, der im Jahr 2016 den Stein ins Rollen brachte und das Zirkusquartier ins Leben rief.
Das Zirkusquartier auf dem Koch-Areal ist ein öffentlich zugänglicher Ort, an dem zeitgenössischer Zirkus gelebt und gefördert wird. (Bild: zVg)
Was zuerst eine vage Idee war, hat sich über die Jahre hinweg etabliert: «Zwischenzeitlich organisieren wir uns als zwei unabhängige Vereine, um programmatisch wie auch zweckmässig zielgerichteter wirken zu können», erklärt Sebastian, denn: «Im Gegensatz zum Zirkus Chnopf erarbeiten wir keine Produktion, mit der wir dann auf Tournee gehen. Wir verstehen uns vielmehr als Plattform, die solches Engagement ermöglicht, fördert und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich macht.»
Herzstück des Angebotes sind die zahlreichen Kurse und Workshops, die neugierige Kinder und Erwachsenen Zirkusluft schnuppern lassen. Caroline erklärt: «Die Kleinsten kommen bereits mit etwa zweieinhalb Jahren zu uns.» Viele werden im Quartier gross, und einige Jugendliche erhalten die Chance, beim Zirkus Chnopf vorstellig zu werden. «Der Zirkus Chnopf ist sowieso eine einzige Netzwerkmaschinerie», fügt Sebastian lachend an, «viele, die mal beim Zirkus Chnopf waren, kommen zu einem späteren Zeitpunkt für Auftritts- und Probemöglichkeiten zu uns zurück oder empfehlen uns weiter.» Die Szene ist gross: Zirkusschaffende und Compagnien reisen aus der ganzen Welt an. Auch wer sich eher neben der Bühne sieht, wird beim Quartier fündig. Diesen August fand das Festival ZirQus, die Werkschau der zeitgenössischen Zirkusszene, statt. Wie lange das Zirkusquartier dieses lebendige Kommen und Gehen noch fördern kann, ist jedoch unklar.
«Kommt, bevor's vorbei ist!»
Dass das Koch-Areal lediglich eine befristete Zwischennutzung ist, war allen Beteiligten von Anfang an klar. Denn: «Angesichts unseres marginalen Profites wären wir sonst gar nicht reingelassen worden», schmunzelt Sebastian. Der Bau des geplanten Koch-Quartiers soll vom Januar 2022 bis Januar 2024 dauern. «Glücklicherweise steht die Stadt dem Quartier grundsätzlich positiv gegenüber, es gibt sogar eine Interessengruppe im Gemeinderat», erklärt Caroline. Auch die Genossenschaft Kraftwerk1 ist vom Wirken des Zirkusquartiers angetan und macht sich für dessen Integration im Neubau stark. Die grosse Frage ist jedoch: Wohin in der Zwischenzeit? Obwohl die Projektleitung «Zirkusquartier 2024» derzeit verschiedene Optionen prüft, bleibt die Zukunft ungewiss. Sebastian betont deshalb zuletzt: «Unser Programm ist wunderbar. Drum kommt, bevor’s zu spät ist, und lasst euch in unsere Welt entführen.»