«Zürich hat das Velo bei der Planung vergessen»
Yvonne Ehrensberger von Pro Velo Kanton Zürich setzt sich für sichere und durchgängige Velowege in der Stadt ein. Es ist ein Kampf um enge Platzverhältnisse.
Frau Ehrensberger, ist Zürich eine Velostadt?
Es sind extrem viele Zürcher*innen auf dem Velo in der Stadt unterwegs – in dem Sinne, ja! Der Wille, eine Velostadt zu werden, ist da. Hinsichtlich der Infrastruktur gibt es aber sehr viel Luft nach oben. Wir sind nicht einmal Vorreiter innerhalb der Schweiz. Während sich das Velo in der Stadt Bern etabliert hat, hinkt Zürich hinterher. Bei den diversen Abstimmungen zum Thema Velo spürt man den Anklang bei der Bevölkerung, konkret auf der Strasse sieht man davon aber noch zu wenig.
Wieso geht’s in Bern vorwärts und bei uns nicht?
Das fragen wir uns auch. Unsere Geschäftsstelle in Zürich gibt es gleich lang wie Pro Velo Bern – seit 40 Jahren. Das Velo ist kein neues Thema. In Bern ist der Fortschritt allerdings besonders der ehemaligen Stadträtin Ursula Wyss zu verdanken, sie hat keine Konflikte gescheut und rührte mit der grossen Kelle an. Bern verzeichnet einen Rückgang im Autoverkehr, der entstehende Platz wird den Velofahrenden zugesprochen. Dafür hat Wyss mit neuen Standards gesorgt. In Zürich ist das nicht, oder noch nicht, passiert.
Ist es überhaupt möglich, mit unseren engen Platzverhältnissen ein ebenso grosses Velonetz aufzubauen, wie es in Bern, oder auch Amsterdam und Kopenhagen, vorhanden ist?
Die Dimensionen und die Aufteilung zwischen den Verkehrsteilnehmenden sind in Amsterdam und Kopenhagen anders. Hier ist der öffentliche Verkehr sehr stark. Ein breites Trottoir neben einem breiten Veloweg neben einer Autospur und einer Tram- und Busspur ist eine Illusion. Es gibt aber europäische Städte, wie eben Bern, mit ähnlichen Verhältnissen, die trotzdem eine gute Velo-Infrastruktur etablieren konnten.
Das Platz-Argument ist also auch eine Ausrede.
Die Stadt baut nicht in erster Linie für das Velo, es soll einfach auch noch reinpassen. So wurde bisher viel zu wenig gemacht, zu viele Kompromisse wurden eingegangen, das Velo ging häufig vergessen oder wurde erst am Schluss eingeplant. Es ist eine Frage der Prioritäten: Wem geben wir wo Platz?
E-Bikes und Trottinetts verengen die Strassen nun noch zusätzlich.
Den Trottinetts gegenüber sind wir tatsächlich sehr kritisch. Alles, was neu aufkommt, wird auf die kaum vorhandene Velo-Infrastruktur verwiesen. Das geht auf Dauer nicht gut. E-Bikes hingegen sind eine tolle Entwicklung. Sie bringen mehr Leute aufs Velo, auch diejenigen, die vorher keinen Zugang dazu hatten. Das stärkt wiederum die Position des Velos als ernstzunehmender Verkehrsteilnehmer. Aber auch E-Bikes bringen neue Ansprüche mit sich. Im Mischverkehr, wo Velo und Fussgänger*innen aufeinandertreffen, sind unterschiedliche Geschwindigkeiten eine Gefahrenquelle, die sich mit den E-Bikes verschärft.
Sobald es eng wird, verschwinden Velowege und Velostreifen oder es wird gefährlich. Was nützen Velostreifen, wenn sie nur da vorhanden sind, wo die Strasse sowieso breit genug ist?
Wo es wenig Platz hat, werden in Zürich zuerst die Velostreifen aufgelöst, mit dem Argument, dass sich Velofahrende in den übrigen Verkehr einfädeln können. Der nötige Schutz geht dabei verloren. Auf die Idee, eine Autospur aufzulösen, käme man nie. Solange das Velo nicht auch vortrittsberechtigt über Kreuzungen geführt wird, bleibt Zürich ein Flickenteppich. Nicht ohne Grund ist der Ruf nach sicheren und sichtbaren, ausgebauten und durchgängigen Velorouten so laut.
Wie schätzen Sie die Veloweg-Situation im Hochschulgebiet ein?
Die Konstellationen sind teilweise sehr mühsam. Es treffen zu viele verschiedene Verkehrsteilnehmende aufeinander. Und das trotz Einsprachen von Pro Velo, so wie bei der Tannenstrasse etwa. Es besteht ein riesiges Potential. Die viel genutzten Publi-Bikes vor der Uni und ETH zeigen ein Bedürfnis der Studis. Wichtig ist neben einem feinmaschigen Velonetz zwischen den Gebäuden und Standorten auch die Erreichbarkeit des Hochschulgebiets mit dem Velo. An der Rämistrasse, zum Beispiel, fehlen nach wie vor Radstreifen bergwärts, wo Velofahrende langsamer unterwegs sind als Autofahrende, sowie talwärts, wo man als Velo häufig im Rückstau stecken bleibt. Ebenfalls muss der Anschluss an die Freiestrasse durch den Gloriapark sorgfältig geplant werden, damit dieser bei hoher Publikumsintensität möglichst konfliktfrei verläuft. Und auch bei den Abstellplätzen hat es noch mehr Potential. Die sind immer überfüllt.
Gibt es ein Konzept für das neu geplante Hochschulgebiet?
Von einem Velo-Plan wissen wir nichts. Vielleicht ist es zu früh. Doch besonders jetzt, wo klar ist, wo die neuen Gebäude hinkommen, wäre es sicher an der Zeit, ein Konzept fürs Velo zu erstellen, bevor es wieder zu spät ist und das Velo wieder hineingeflickt werden muss.
Pro Velo fordert seit 20 Jahren, dass die Langstrasse durchgängig und beidseitig für den Veloverkehr geöffnet wird. Fehlt es dem Verein an Einfluss?
Nein. Auf nationaler Ebene wurde 2018 der Bundesbeschluss Velo mit 73.6% Zustimmung angenommen, dieser basiert auf der Velo-Initiative von Pro Velo. Unter anderem auf Druck der Velolobby werden in der städtischen Verwaltung mehr Stellen mit Fokus aufs Velo geschaffen, und es geht kein Strassenbauprojekt an unserem kritischen Auge vorbei.
So wird nun immerhin die Unterführung der Langstrasse angepasst.
Das liegt auch daran, dass sie der absolute Hotspot für Velounfälle ist.
Muss es denn zuerst viele Unfälle geben, damit etwas passiert?
Seit den 60er-Jahren hat die Stadt aufs Auto gesetzt. Erst jetzt zeigt sich eine Umstellung. Vor einem autofreien Zürich haben die Leute Angst, denn das Autofahren ist auch Statussymbol. Politische Veränderungen und ein Umdenken in der Verwaltung brauchen viel Zeit. Aber steter Tropfen höhlt den Stein, wir bleiben stets dran.
Wieso ist das Velo so ein emotionales Thema?
Das Verkehrsklima in der Stadt Zürich ist grundsätzlich nicht gut, es wäre schon geholfen, wenn alle Verkehrsteilnehmenden ein wenig entspannter unterwegs wären. Durch die engen Platzverhältnisse entstehen oft gefährliche Situationen, bei denen Auto- wie auch Velofahrende ausrufen. Das führt zu einem angespannten Verhältnis. Es hat aber auch ideologische Gründe. Die Velofahrenden werden oft als weltverbessernde Ökos abgestempelt, die den Autofahrenden etwas wegnehmen wollen.
Wie soll man sich als Velofahrer*in verhalten?
Sich zu behaupten ist sehr wichtig. Mit dem eigenen Fahrverhalten kann viel für die eigene Sicherheit getan werden. Velofahrende müssen sich zeigen, aber auch sie haben sich an die Verkehrsregeln zu halten. Fahre so, dass du dich sicher fühlst, ohne Stress, mit genug Abstand vom Strassenrand und parkierten Autos. Das braucht Mut, aber schliesslich ist man auch Verkehrsteilnehmer*in. Dann muss das Auto halt warten.
Was hat Sie zur Velofahrerin gemacht?
Das Velo bringt Freiheit mit sich und das Fahrgefühl ist genial und selbstermächtigend: Meine Kraft bringt mich dahin, wo ich hin will.