Zwei Generationen Frauenstreik vereint: Myriam Rudin (links) und Lirija Sejdi. Stephanie Caminada

«Wir waren damals konfrontativer»

1991 gab es schon einmal einen schweizweiten Frauenstreik. Die Zeiten haben sich geändert, die Forderungen sind mehr geworden.

19. Mai 2019

Vor 28 Jahren gingen Hunderttausende Frauen auf die Strasse. Frau Rudin, Sie waren dabei. Das Ereignis scheint sich dieses Jahr zu wiederholen. Was ist das für ein Gefühl?

Myriam Rudin: Die Power, die die Frauen heute an den Tag legen, ist unglaublich. Ich bin völlig begeistert. 1991 war ein fulminanter Punkt: Eine halbe Million Frauen solidarisierte sich, ging auf die Strasse – und das noch ganz ohne Handys und Facebook. Die Bewegung war so gross, dass man unumgänglich

davon erfasst wurde. Nachdem einzelne Gruppen nun jahrelang in einer Blase verschwanden und für ihre eigenen Anliegen kämpften – wie die Gruppe gegen Gewalt an Frauen – ist es grossartig, dass Frauen sich in ihrer Verschiedenheit wieder zusammentun und für gemeinsame Forderungen einstehen. Die Heterogenität unter den Frauen zu vereinen, ist nämlich gar nicht so einfach, wie man meinen könnte. Dafür bin ich auch sehr dankbar.

Die Forderungen von damals lesen sich fast wie die von heute. Können noch einmal so viele Frauen mobilisiert werden?

Lirija Sejdi: Mit dem letzten Streik wurde einiges erreicht, doch leider hat es längst nicht gereicht. Wir wollen uns aber nicht mit dem 91er-Streik vergleichen. Ich glaube, es wäre utopisch, zu denken, dass wir übertreffen können, was damals geschah. Auch nicht mit Social Media. Es ist eine andere Zeit. Gleichzeitig hängen wir den diesjährigen Streik immer wieder daran auf. Der Vergleich zwischen 1991 und 2019 ist omnipräsent.

Kann man die beiden Ereignisse überhaupt vergleichen?

Rudin: Ich finde es extrem schade, dass wir uns so oft auf die Vergangenheit beziehen. Wir erwähnen immer wieder dieselben Dinosaurier-Feministinnen, statt dass wir uns zukunftsgerichtet orientieren und uns fragen, wer im Moment unsere Gesellschaft formt. Das sind die Frauen. Es gibt eine Handvoll Frauen, die, vor allem in Europa, politisch mitbestimmen und enorm wichtige Arbeit leisten. Wir haben sie nur nicht auf dem Schirm. Sie sind oft Einzelkämpferinnen aber auf sie müssen wir uns beziehen.

Firmen versuchen häufig, ihre Diversität hervorzuheben.

Rudin: Was soll diese Gender-Industrie, was soll dieser heutige Gender-Kapitalismus? All die Stellen, die im Gender-Business geschaffen werden, sind keine Hilfe, wenn wir qualitativ nicht vorwärtskommen. All die Frauenstellen in der Literatur, Psychologie und im Coaching-Business, beispielsweise, sind einseitig. Wir müssen uns vielmehr überlegen: Wie kommen wir miteinander in Bewegung? Und dann: Was machen wir mit dieser Energie? Wie können wir damit die Gesellschaft verändern?

Sejdi: Deshalb haben wir den Streik heute sehr breit aufgegleist. Unsere Streikgründe sollen so unterschiedlich sein wie die Vielfalt der Frauen. Denn jede Frau streikt aus ihrem eigenen Grund. Wir beschränken uns nicht auf zwei, drei Hauptpunkte.

Seit 1991 sind sogar noch neue Forderungen dazugekommen.

Rudin: Uns ging es damals unter anderem um die Gleichberechtigung am Arbeitsplatz, die noch viel mehr beinhaltet als nur die Löhne: Fairer Umgang und gleiche Chancen beispielsweise. Wir wollen kein Glasdach über dem Kopf. Die Vielseitigkeit sexueller Orientierungen war uns damals im Jahr 1991 aber noch nicht so bewusst. Es gab bereits Organisationen, die sich für homosexuelle Personen einsetzten und es gab natürlich auch Trans-Menschen, die sich am Frauenstreik beteiligten. Aber als politische Forderung wurde das noch nicht wirklich wahrgenommen. Im Ausland waren sie uns in diesem Punkt weit voraus.

Wo soll man beginnen?

Rudin: Wir müssen anfangen, Strukturen zu hinterfragen. In der Psychologie dauerte es zwei Generationen, bis wir endlich Sigmund Freud und C.G. Jung hinterfragten und frauenfreundlichere Definitionen forderten. Bei der Digitalisierung ist es dasselbe. Frauen müssen anfangen, den Algorithmus zu schrei-

ben. Wir tendieren dazu, uns in die Opferposition zu versetzen und es auf unsere Sozialisierung und eine angebliche weibliche Angst vor den Naturwissenschaften und Mathematik zu schieben, aber das ist Bullshit. Wir brauchen fraueneigene Strukturen in allen Bereichen. Auch im Digitalen. Das Netz bietet viele Möglichkeiten, aber die Fenster gehen langsam zu. Sucht man im Internet nach Minderheiten, erhält man am Laufmeter einen «Error 404: Page not found» oder verschlossene Zugänge. Open Source ist da die Lösung.

Sejdi: Die Digitalisierung ist zwar bei uns nicht gerade Hauptthema. Aber natürlich geht es uns vor allem darum, patriarchalische Strukturen aufzubrechen. Das ganze System muss sich wandeln. Wir Frauen wollen nicht einfach ein grösseres Stück Kuchen, wir wollen einen neuen Kuchen.

Wie eignet sich das Format des Streiks, um die Forderungen zu erreichen?

Sejdi: Streik ist eigentlich ein zu enger Begriff dafür. Streiken würde ja heissen, man geht nicht arbeiten. Der Frauenstreik geht aber darüber hinaus. Diejenigen Frauen, die ihre Arbeit nicht niederlegen können, haben andere Möglichkeiten, ihren Widerstand zu demonstrieren. Nur schon einen Badge oder ein violettes Halstuch zu tragen, eine Fahne aufzuhängen, setzt ein Zeichen. Mit Freundinnen darüber zu sprechen, bewirkt auch mehr, als man denkt. Solche Statements sind dann vor allem relevant, wenn man am Arbeitsplatz nicht so flexibel ist und nicht den ganzen Tag streiken kann.

Rudin: Ich denke, das ist notwendig. Wir konnten uns damals leisten, konfrontativer zu sein. Wir machten wüste Sachen. Einmal stürmten wir gar den Kantonsrat und warfen mit Binden umher. Damals war das revolutionär. Heute ist es viel sinnvoller, dass man Zwischenlösungen anbietet. Wir hatten noch Alternativen, wenn man am Arbeitsplatz Schwierigkeiten wegen des Streiks bekam. Heute schätze ich die Lage so ein, dass man mehr unter Druck steht. Die Frage ist, könnten wir – auch wenn wir uns gemeinschaftlich organisieren auf der Strasse – den Frauen, den Mamis mit Kindern, etwas geben, wenn ein solcher Streik negative Konsequenzen hätte?

Gibt es da eine Lösung?

Sejdi: Wir spielen heute mehr mit der Zeit. Es gibt zwei nationale Streikstartpunkte. Um 11 Uhr versuchen beispielsweise die Gewerkschaften in Bern die Verkäuferinnen an der Marktgasse, für wenigstens fünf Minuten auf die Strasse zu holen. Halb vier ist ebenfalls zentral: Frauen verdienen immer noch rund 20 Prozent weniger als Männer, also arbeiten wir am Freitag auch 20 Prozent weniger. Punkt. Jede Frau soll ihren Moment des Streiks haben, auch wenn das nur ein paar Minuten sein können.

Die Sicherheitsauflagen haben sich geändert. Am Frauenmarsch im März hatte es ein riesiges Polizeiaufgebot.

Rudin: Ich finde es falsch, immer alles auf die Polizei zu projizieren. Die Polizei hat vom Staat den Auftrag, Sicherheit zu garantieren. Die Ansprüche an die Sicherheit sind heute immens im Vergleich zu damals. Die allgemeine Stimmung in der Gesellschaft war konfrontativer. Wir hatten viel mehr Möglichkeiten, auch mal aggressiv sein zu können, uns gegen etwas zu stellen. Heute muss man bis ins Detail überlegen, was man macht und wie man etwas macht.

Ist denn die Stimmung heute weniger geladen?

Rudin: Was sich gesellschaftlich geändert hat, ist der immense Druck von allen Seiten. Insbesondere auch ökonomisch. Viele Frauen, auch mit Kindern, konnten früher das Leben mit einem 50- oder 60-Prozent-Teilzeitjob gut bestreiten und hatten neben der Hausarbeit auch noch Zeit, politische Arbeit zu leisten. Das ist heute kaum mehr möglich. Wenn ich heute sehe, wie sich die Jungen die Zeit herausnehmen müssen – das ist kein Vergleich zu früher. Dass ihr das überhaupt noch könnt, die Kapazität habt.

Sejdi: Ich bin zurzeit in einer flexiblen Position und kann mich hauptsächlich dem Frauenstreik widmen. Sehe ich aber eine Kollegin in der gleichen Arbeitsgruppe, die zwei Kinder hat, 80 Prozent bügelt, eigentlich noch in diesem und jenem Verein aktiv ist und trotzdem den Frauenstreik mindestens so viele Stunden in der Woche managt wie ich, dann frage ich mich, wie sie das hinkriegt. Solchen Frauen gebührt mein grösster Respekt.

Wie geht es nach dem Streik weiter?

Sejdi: Dieser Frage kann im Moment nur wenig Platz eingeräumt werden. Priorität hat die Mobilisierung für den Tag selber. Einzelne Arbeitsgruppen planen dennoch bereits über den Streik hinaus. So werden beispielsweise Frauenräume gesucht, die auch weiterhin genutzt werden können, und man hat schon Sitzungen nach dem Streik festgelegt, um zu resümieren, wie es weiter gehen soll. Die Ideen und Ansprüche sind dabei immer sehr gross. Voraussagen kann man aber wenig. Für uns ist klar, der Streik ist der Anfang, nicht das Ende. Die Welt wird am Tag danach nicht in einem anderen Gewand erscheinen. Es ist ein Rütteln am Gerüst. Der Einsturz folgt später. Wir setzen ein Zeichen und kämpfen weiter.

Rudin: Auch 1991 waren die Ansprüche anfangs riesig. Wir hatten im Vergleich den Vorteil, dass viele Strukturen schon vor dem Streik bestanden. Gruppierungen, in denen man zusammengearbeitet hat, existierten einfach weiter. Sie haben für ihr Anliegen durchgehalten und weitergekämpft.

Warum ist die Bewegung dann in den Hintergrund gerückt?

Rudin: Ich persönlich glaube, dass es an der Generation liegt. Die Generation nach 1991 hat einen anderen Weg eingeschlagen, gab sich genügsamer. Ich habe aber nicht wirklich eine Antwort dafür.

Was kann 1991 dem diesjährigen Streik mitgeben?

Rudin: Jede Organisation fährt mit der Zeit fest. Zentral ist, dass die Strukturen in Bewegung bleiben. Rotierende Positionen helfen dabei, Machtstellungen einzudämmen. Das gilt auch für die Frauen. Niemand soll auf seiner Position sitzenbleiben. Die stetige Erneuerung innerhalb eines Gebildes ist immens wichtig, sei es in einer Regierung, in einer Organisation oder in einer Gruppe.

Myriam Rudin hat den Frauenstreik 1991 massgeblich mitgetragen und ist auch am diesjährigen Streik im Zürcher Kollektiv aktiv.

Lirija Sejdi ist zurzeit aktiv beim Frauenstreik-Kollektiv in Bern dabei und organisiert unter anderem die Aktionen auf dem Bundesplatz in Bern.

Mit Frauen sind in diesem Interview alle ftiq* (Frauen*, Trans*, Inter*, Queer*) gemeint.

In der Ausgabe #3/19 wird durchgehend das generische Femininum verwendet. Anlass ist der nationale Frauenstreik vom 14. Juni, der Thema dieser Ausgabe ist.