Kolumne: Die grösste Distanz
An der Uni legen wir alle immer wieder grössere und kleinere Distanzen zurück. Sei es, um vom Seminar im Zentrum zur Vorlesung in Oerlikon, oder vor dem grössten Ansturm in die Mensa zu gelangen. Die Schlange vor der Vegi-Mensa unten beim Asien-Orient- und Kunsthistorischen Institut artet beispielsweise regelmässig derart aus, dass man bis ins Foyer beim Eingang ansteht. Die Distanz zum Essen wird dadurch buchstäblich grösser und man überlegt sich zweimal, sich um 12 Uhr in die Massen zu stürzen. Ähnlich ist es übrigens beim Careum, wo sich die wohl grösste Mikrowellensammlung der Uni befindet. Hat man also zu wärmendes Essen dabei, kann man sich bei Hochbetrieb auf eine Wartezeit einstellen. Doch nicht nur innerhalb der Uni gibt es Distanzen. Wenn beispielsweise frühmorgens der Wecker klingelt, und ich ins Seminar soll, fühle ich mich ziemlich weit von der Uni entfernt. Umgekehrt kommt mir der Weg nach Hause endlos vor, wenn ich mit einem Rucksack voll Bücher aus der Bibliothek zur Tramhaltestelle laufe.
Manchmal ist die grösste Distanz nicht in Metern messbar. Denn wie schon der Duden besagt, kann mit «Distanz» sowohl räumlicher wie innerlicher Abstand gemeint sein. Oder es ist eine Kombination von beidem. Denke ich etwa an mein Austauschsemester zurück, kommt es mir vor, als liege das nicht wenige Monate, sondern Jahre hinter mir. Wieso? Vielleicht liegt es am elitären Gehabe und den günstigen Kaffees der Gastuni, die in krassem Gegensatz zu hiesigen Verhältnissen stehen. Und somit nicht nur an den 1609 Kilometern Entfernung. So schnell geht es, und schon ist man wieder im altbekannten Alltagstrott gefangen.
Wegdriften
Zurück in Zürich zu sein heisst für mich auch, zurück bei der ZS zu sein. Während den Produktionswochen wird durchaus die eine oder andere Lehrveranstaltung geschwänzt, damit eine ordentliche Zeitung produziert wird. Ich bin dann zwar an der Rämistrasse, keine fünf Minuten vom Zentrum entfernt. Doch in diesen sechs Tagen voll von Tränen, Blut und Schweiss vergesse ich manchmal, dass ich auch noch studiere. Das mag etwas paradox klingen – schliesslich dreht sich die Zeitung um Uni-Themen – ist aber so. Dann denke ich nicht über meine Abgabefristen und Prüfungstermine nach. Nach dem Erscheinen der Zeitung, wenn mir Mitstudierende erzählen, welchen Stoff ich verpasst habe, versuche ich dafür panisch, die Norton Anthology querzulesen oder eine Arbeit in drei Tagen zu schreiben. Es scheint mir, als ob ich kurzzeitig in einem anderen Universum zu Gast wäre als dem der Uni, wo sich meine Mitstudierenden bewegen.
Wenn ich dann endlich mal wieder im Schwedisch-Sprachkurs auftauche, nachdem ich in zwei der drei Sitzungen gefehlt habe, und ich der Lehrerin in der falschen Sprache antworten will, merke ich, dass ich einiges nachzuholen habe. Dieser Eindruck verfestigt sich nur, als wir miteinander sprechen sollen, und sich meine Mitlernenden bereits in Schwedisch nach ihrem Studium fragen können, während ich bei «Jag heter Noemi» stehen geblieben bin. Die Ankündigung eines Vokabeltests nächste Woche ruft schliesslich eine Mischung aus Panik und Resignation hervor. Ich bin froh, kenne ich überhaupt meine beiden direkten Sitznachbarinnen mit Namen. Die anderen Kursteilnehmenden könnten gerade so gut in einem Seminarraum in Australien sitzen - ich kann mich weder an Gesichter noch an Namen erinnern.
Ähnlich ist es, wenn ich mich meinen guten Vorsätzen folgend aufraffe, um in der Institutsbibliothek zu lernen. Erstens erkenne ich kaum eine oder einen der anderen Studierenden. Dabei war ich doch nur ein Semester an einer anderen Uni? Als ich dann beim Scannen gefragt werde, ob ich auch am doktorieren sei, lache ich etwas gequält. «Ich bin noch im Bachelor.» Auf die Entgegnung, er wünsche mir viel Erfolg beim Abschluss, wage ich es nicht, ihn darauf hinzuweisen, dass der noch ein Jahr in der Zukunft liegt. Und wundere mich, ob ich so alt aussehe oder ob ich mit meinem zusätzlichen Jahr bereits zu den berüchtigten «ewigen Studis» zähle.
Universitäts-Universum
Aber auch ein Gang durch den Lichthof mag mich der Uni oder meinen Mitstudierenden nicht näher bringen. Im Gegenteil. «Ich mache dieses Semester 15 Credits mehr als du», überhöre ich da etwa und frage mich einerseits, wieso das eine Errungenschaft sein soll und andererseits, wer denn seine Credits zählt und mit anderen vergleicht. Am selben Tag höre ich eine andere Studentin sagen, dass sie für die Statistik bereits vorgearbeitet habe, um danach keinen Stress zu haben. Sowas ist ja durchaus lobens-, wenn nicht beneidenswert. Ich wünschte nur, ich hätte das damals im Methodenmodul so hingekriegt. Habe ich leider nicht. Aber vielleicht ist das auch egal, denn an dem einen Tag die Woche, an dem ich arbeiten gehe, wurde ich (zum Glück) noch nie zu Wahrscheinlichkeitsrechnungen oder Standardnormalverteilungen befragt. Wenn ich dann nach meinem Ausflug in die Berufswelt nach Hause komme, mag ich erst recht nicht, Gellners Text zu Nationen und Nationalismus zu lesen, auch wenn ich mir das vorgenommen hatte.
Einmal hat mir jemand erzählt, er sei ganz froh, dass das Semester wieder begonnen habe. Die Semesterferien seien halt schon noch lang und nach ein paar Monaten seligen Nichtstuns freue er sich auf die Uni. Ist mir zwar so noch nie passiert. Aber auch ich verspüre nach drei Monaten Bürojob durchaus mehr Lust, mich mit Norton, Gellner und Co. auseinanderzusetzen als kurz vor den Prüfungen. Denn obwohl ich die Uni und die dort tätigen Menschen nicht immer verstehe oder mich nicht immer mit ihnen identifizieren kann, dreht sich momentan mein ganzes Leben ums Studium. Zwar nicht nur für ein letztes Semester, sondern mindestens noch für ein ganzes Jahr. Diese Gewissheit hat auch was Schönes. Denn plötzlich fühle ich mich sehr wohl zur Uni gehörig. Auf welche Art das auch immer sein mag.