Der Demo-Zug zieht lautstark durch die Bahnhofstrasse. Jonathan Progin

Streik für die Zukunft

Auf der ganzen Welt geht die Jugend für den Klimaschutz auf die Strasse. Nun hat sich die Bewegung auch an Uni und ETH formiert.

14. April 2019

Die Polyterrasse ist rappelvoll mit Menschen. Regenschirme und Plakate versperren die Sicht, an Durchkommen ist gar nicht zu denken. Es ist Freitagnachmittag, 15. März, Klimastreik. Viele Schülerinnen und Schüler und Studierende sind trotz des nasskalten Wetters gekommen, um gegen die Untätigkeit der Politik zu demonstrieren. Der riesige Zug setzt sich nur langsam in Bewegung, das ganze Ausmass der Demonstration zeigt sich erst auf der Rämistrasse. Für gewöhnlich von stinkenden und hupenden Autos verstopft, ist sie an diesem Freitag im März ein bunter Schwarm von Menschen, die ihren Planeten, ihre Lebensgrundlage, nicht von Profitgier und Vielfliegerei zerstört sehen wollen. 12'000 Personen protestieren alleine in Zürich, in der ganzen Schweiz sind es über 70'000.

Die Mobilisierung findet zu grossen Teilen Über soziale Netzwerke statt. Jonathan Progin

Die Jugend ist wieder da. Wütend auf die Untätigkeit der Mächtigen geht sie auf die Strasse und schreit sich ins kollektive Bewusstsein. Sie fordert eine Politik, die den Klimawandel als das betrachtet, was er ist: eine Krise. An Beweisen mangelt es nicht, die Wissenschaft schlägt seit Jahrzehnten Alarm. Passiert ist wenig bis gar nichts. Jetzt muss es halt wieder die Jugend richten – mit Organisationstalent und WhatsApp.

«System change»

Was an den Kantonsschulen begonnen hat, ist jetzt auch an den Universitäten angekommen. Die angehende Islamwissenschaftlerin Katharina Ohlhorst und der Biologie-Student Dario Vareni waren von Anfang an bei der Klimabewegung der Hochschulen engagiert. «Kurz nach der ersten grossen Demo am 2. Februar haben wir uns getroffen. Dann haben wir angefangen, uns aktiv zu organisieren», erklärt Dario. Die Bewegung habe sich dynamisch aufgebaut, sagt Katharina. «Wie eine Welle am Horizont, die zuerst klein wirkt, aber am Ufer dann riesig ist.»

Die Demonstrierenden sind fest überzeugt, dass jetzt etwas geschehen muss.

Der Demonstrationszug zieht weiter, vorbei an der Zentralbibliothek, auf direktem Weg zur Bahnhofstrasse. Ein Meer aus Schirmen zieht durch die verregnete Innenstadt, unterbrochen von einzelnen Plakaten mit deutlichen Botschaften: «Zero carbon», «System change» oder «Fickt euch lieber selbst anstatt das Klima». Aus den Fenstern entlang der Bahnhofstrasse blicken verwunderte Geschäftsleute herab. Die Demonstrierenden sind fest überzeugt, dass jetzt etwas geschehen muss. Ihre Forderungen sind klar: Die Schweiz soll den nationalen Klimanotstand ausrufen, bis 2030 die Treibhausgasemissionen im Inland auf netto null senken, und sie verlangen Klimagerechtigkeit – also, dass die Hauptverantwortlichen der globalen Erwärmung zur Verantwortung gezogen werden. Falls das im aktuellen System nicht funktioniere, brauche es einen Systemwandel. Konkrete Lösungen formuliert die Bewegung bewusst nicht. Das sei nicht ihre Aufgabe, sondern die der Politik. Was längst überfällig war, trifft nun mit voller Wucht ein: Eine politisierte Jugend hinterfragt die Verhältnisse, geht auf die Strasse und pocht auf Veränderung. Und dafür will sie alle ins Boot holen.

WhatsApp, Telegram und Google Drive

Katharina erklärt, wie das an den Hochschulen geschehen soll: «Wir versuchen unsere Sitzungen so offen wie möglich zu gestalten. Zum Beispiel diskutieren wir regelmässig in Kleingruppen, damit auch Leute, die sich nicht gerne in grossen Gruppen melden, mitmachen können.» Die Sitzungen, in denen Aktionen an Uni und ETH geplant und Pamphlete verabschiedet werden, finden regelmässig unter der Woche statt.

Organisiert sind die Studierenden in der Regionalgruppe «Klimastreik Kanton Zürich». Die Arbeitsgruppe «AG Studierende» ist dann wiederum in Subgruppen unterteilt, die sich der Mobilisierung, der Koordination oder der Eventplanung widmen. Zu jeder Gruppe existiert ein Chat, entweder auf WhatsApp oder Telegram. «Momentan wollen wir die Anzahl Chats aber verkleinern», sagt Katharina. Denn diese sind zum Teil voll; mit einer Nachricht können Hunderte erreicht werden. Das Ganze wird von einem grossen Google-Drive-Ordner zusammengehalten. Darauf können alle interessierten Studis zugreifen und Protokolle, Artikel, Gesuche, Factsheets und Folien für das Werben in der Vorlesung finden. Wer mitmachen will oder interessiert ist, kann einfach einem Chat beitreten: «Die Links sind online verfügbar. Am besten kommt man aber direkt an eine Sitzung», erklärt Dario.

Ernst der Lage nicht erkannt

Beim Helvetiaplatz im Kreis 4 angekommen, löst sich die Demo langsam auf. Doch für eine kleine Gruppe beginnen jetzt die letzten Vorbereitungen für einen grossen Auftritt. Einzelne Mitstreikende, darunter auch Studis, sind an diesem Klimastreik-Freitag in die «Arena» eingeladen, um die Standpunkte der Bewegung zu vertreten. Beim SRF werden sie allerdings enttäuscht. Die Streikenden fühlen sich nicht ernst genommen. Das sei kein echtes Gespräch, die älteren Herren in der «Arena» hätten allesamt den Ernst der Lage nicht erkannt, meldet der Instagram-Account der nationalen Organisation «Klimastreik Schweiz». SVP-Nationalrat Claudio Zanetti, einer der geladenen Gäste, wirft den Jungen Angstmacherei und Panikmache vor. Kurzerhand wird eine eigene Arena ins Leben gerufen und eine Woche später diskutieren Profs, Politikerinnen und Politiker zusammen mit Schülerinnen und Schülern und Studis im Zürcher Kulturlokal Kosmos. Live-Übertragung auf Facebook inklusive.

«Ich laufe für das Klima zwei Stunden im Regen durch die Stadt.»
Katharina Ohlhorst, Studentin

Viele Streikende sind mit Kritik und heftigem Widerstand konfrontiert, insbesondere diejenigen an den Kantonsschulen. Bürgerliche Politikerinnen und Politiker werfen ihnen vor, sie seien faul und würden nur schwänzen wollen. Einzelne Schulen drohen gar mit Verweisen, Nachsitzen und dem Verfassen von Strafaufsätzen. Das betrifft die Studierenden zum Glück nicht, sagt Dario. «Bei uns gibt es ja keine Anwesenheitspflicht. Schlussendlich habe ich mit dem ganzen Organisieren noch mehr Aufwand als vorher. Ich bin also sicher nicht faul.» Auch Katharina kontert: «Wenn ich schwänzen will, kann ich einfach nach Hause gehen und einen Film schauen. Aber nein, ich laufe für das Klima zwei Stunden im Regen durch die Stadt.» Es sei ja die Idee eines Streiks, bewusst nicht in den Unterricht oder in die Vorlesung zu gehen, um ein Zeichen zu setzen. «Und wir tun das ja nicht nur unter der Woche. Die bisher grösste Demo in Zürich war an einem Samstag im Februar», sagt Katharina.

Flashmobs und Flyeraktionen

Eine solche Grossdemonstration ist wieder geplant. Am Abend des 27. März trifft sich die Klimabewegung der Hochschulen bereits zum vierten Mal. Vor allem ein Thema dominiert die Traktandenliste: Die Mobilisierung an Uni und ETH für die Klimademo vom Samstag, 6. April. Der Hörsaal im Hauptgebäude ist gut gefüllt, wenig deutet darauf hin, dass es sich um eine Planungssitzung aktivistischer Studis handelt. Wie in einer normalen Vorlesung sitzen die Anwesenden vor ihren Laptops, einige haben Unterlagen ausgebreitet, andere verdrücken noch hastig ihr Abendessen. Vorne aber steht eine Studentin und fragt in die Runde, wer das Protokoll verfassen will. In der zweitvordersten Reihe bearbeitet ein Student eine Grafik – in wenigen Stunden wird er sie auf den entsprechenden Social-Media-Kanälen verbreiten. Zur Debatte stehen die einzelnen Mobilisierungsaktionen an den Hochschulen. Wer geht wann und wo flyern? Wer organisiert die Bewilligung dafür? Wer schreibt und verschickt den Aufruf an die Fachvereine? Wo sollen Transparente aufgehängt werden? Zudem schlägt ein Student vor, dass alle den Namen ihres persönlichen Hotspots auf dem Smartphone zu «Klimademo, 6.4., 14:00 Uhr» ändern sollen.

Die Mobilisierung findet überall statt, wo sich Studis befinden, erklärt Dario. «Wir gehen in Vorlesungen, flyern vor der Uni und organisieren Flashmobs. Hin und wieder kapern wir das Superkondi im ASVZ und hängen ein Plakat auf.» Von den Aktionen erhofft sich die Klimabewegung viel Zulauf. Das erklärte Ziel: An der nächsten Klimademo sollen mehr Studierende als am 15. März mitlaufen.

Die Klimademo vom 6. April in der Nähe der Bahnhofstrasse. Jonathan Progin

Und dann kommt der grosse Tag, für den sich die Studis der Klimabewegung mit viel Herzblut eingesetzt haben. Bereits auf dem Weg zum Treffpunkt beim Helvetiaplatz ertönt in den Trams, dass einzelne Strecken gesperrt sind. Grund: Demonstration. Kurz vor dem Start um 14 Uhr wird symbolisch ein kleiner Baum gepflanzt. Gekommen sind Familien mit Kindern, Studierende, Schülerinnen und Schüler, Grosseltern. Insgesamt laufen über 15'000 Teilnehmende durch Zürichs Innenstadt, fest entschlossen, die letzte Chance zu packen. Unterwegs kreuzen sie Einkaufstouris auf der Bahnhofstrasse, skandieren «Solidarisiere, mitmarschiere!». Am Strassenrand parkierte Autos werden förmlich von der schieren Grösse der Demo verschluckt. Die Organisierenden sind zufrieden: «Es ist ein wunderschöner Tag», sagt Dario. Doch vorbei sei noch nichts: «Nun geht es weiter. An den Hochschulen gibt es noch viel Luft nach oben.»