Wer vorne weg fährt, bestimmt den Weg: Die Velozug fährt über das Central. Ludwig Hruza

Die Velos übernehmen

Einmal im Monat bestimmt die Bewegung Critical Mass den Zürcher Verkehr. Und das seit sieben Jahren.

24. Februar 2019

Es ist eiskalt draussen. Eine Gruppe von Velofahrenden fährt quer durch Zürich. Es sind die Teilnehmenden der Critical Mass. Voraus fährt das bunte, mit einer Lichterkette geschmückte Musikvelo, hinterher 70 mit Jacken und Schals vermummte Gestalten. So fahren sie – den Minusgraden zum Trotz – vom Bürkliplatz um das Central, zum Helvetiaplatz, durch die Langstrasse und zur Hardbrücke. Beim Anblick der Gruppe zeigen sich die meisten Leute erfreut: Sie zücken ihre Handys und filmen. Einzig die Leute in den Autos zeigen wenig Freude.

Plötzlich gibt es Aufregung auf der Hardbrücke. Zwei Raser überholen den Velopulk auf der Gegenfahrbahn. Einer der Beifahrer spritzt mit Pfefferspray in die Menge. Die Gruppe bleibt stehen und stemmt ihre Velos in die Luft. Ein Ausdruck des Widerstands. Um solche Zwischenfälle zu verhindern, fährt sonst die Polizei mit Streifenwagen hinter dem Velozug her. An diesem Tag hat sie gefehlt.

Die Teilnehmenden des Critical Mass auf der Uraniastrasse. Ludwig Hruza

Mehr Platz für Velos

Kurz nach dem Vorfall treffen die Velofahrer und Velofahrerinnen auf der Stadionbrache des Hardturmareals ein. Dort versammeln sie sich um ein Lagerfeuer und wärmen sich an einer dampfenden Gemüsesuppe auf. Einige sind derart angeregt ins Gespräch vertieft, dass ihnen nicht auffällt, dass ihre Suppe schon vor Minuten erkaltet ist. Manche haben die Schuhe ausgezogen und lassen die eingefrorenen Füsse am Feuer auftauen. Wieder andere haben ihren Velohelm aufgelassen. So ist ihnen wärmer.

«Wir blockieren nicht den Verkehr
wir sind der Verkehr!»

Die Critical Mass trifft sich jeweils am letzten Freitag im Monat kurz vor sieben Uhr auf dem Bürkliplatz. Sobald eine genug grosse Masse zusammengekommen ist, radelt die Gruppe durch die Stadt. Ihr Ziel: Sie will mehr Platz für Velos im Strassenverkehr. Auf der Facebookseite der Critical Mass heisst es etwa: «Wir blockieren nicht den Verkehr – wir sind der Verkehr!»

Gestzlich ist es erlaubt, in einer solch grossen Gruppe die gesamte Fahrbahn einzunehmen. Nur mit dem Überfahren von Rotlichtern befindet man sich in einer rechtlichen Grauzone. Das geschieht dann, wenn die Ersten noch über Grün radeln, das Signal mitten im Velozug aber wechselt. Bisher hat das die Polizei aber geduldet.

Bewegung ohne Führung

«Ich finde, die Critical Mass ist eine Bewegung, die keine Führung haben soll», sagt ein Teilnehmer am Lagerfeuer. Aus diesem Grund will er nicht mit Namen erwähnt werden. «Ich bin nur Aktivist.» Einen offiziellen Organisator kennt die Critical Mass nicht. Zum ersten Mal ist der Aktivist im April mitgefahren. «Das Erlebnis hat mich gepackt und deshalb engagiere ich mich jetzt so treu», sagt er. Für ihn gehe es primär um die Freude am gemeinsamen Velofahren, die Begegnung und den Austausch der Leute untereinander. Parteiflaggen und Parolen seien hier fehl am Platz.

Bei seiner ersten Teilnahme sei er nach 20 Minuten plötzlich ganz vorne gewesen, erinnert er sich, neben ihm zwei junge Frauen. «Ich fragte sie, ob sie wüssten, wohin wir fuhren.» Sie verneinten, da sie selbst ebenfalls zum ersten Mal dabei waren. «Also haben wir den Weg einfach spontan festgelegt.» Das ist auch das Vorgehen der Critical Mass: Wer vorne fährt, bestimmt den Weg.

Die Aktivisten und Aktivistinnen wärmen sich auf der Stadionbrache des Hardturmareals auf. Ludwig Hruza

Velokuriere und Punks

Die Critical Mass hat ihre Ursprünge im Jahre 1992 in San Francisco. Seither hat die Bewegung in mehr als 300 Städten Fuss gefasst. Die grösste Veranstaltung bisher fand 2013 in Budapest statt, als 100'000 Personen mitradelten. Aber auch andere Städte wie Wien, New York oder Berlin haben eine ausgeprägte Critical-Mass-Szene mit mehreren hundert bis tausend Teilnehmenden.

Und in Zürich? «Hier hat die erste Critical Mass im November 2011 stattgefunden», erinnert sich Adrien Merkt. Er ist Velokurier. 100 bis 200 Leute seien mitgefahren. Vor allem Leute aus der linken Szene wie auch viele Veloboten, die damals noch rebellischer und mehr von der Punk-Bewegung geprägt gewesen seien. Die Critical Mass habe damals eher das Image einer Anti-Bewegung gehabt, sagt Merkt und fährt fort: «Als wir etwa zehn Mal ums Bellevue gefahren sind, hat die Polizei angedeutet, dass es reiche.»

Allzu aufregend fanden die rebellischen Veloboten von damals die Bewegung wohl doch nicht. Denn bald verebbte die Begeisterung wieder und die Critical Mass war praktisch inexistent. Das erste Lebenszeichen findet sich wieder im September 2012 in ein paar Facebook-Posts, die eine kleine Gruppe von nicht mehr als 30 Velofahrerinnen und Velofahrern zeigt. In dieser Grössenordnung bewegte sich die Critical Mass dann auch in den folgenden Jahren, bis sie im letzten Sommer wieder in Fahrt kam und weit mehr als 100 Leute dabei fahren. Das Ziel der Bewegung ist klar: Sie will im Sommer mehr als tausend Personen dabei haben.