Der dicke Engel über allem: Blick in die Bahnhofshalle. Adelina Gashi

Mikrokosmos Hauptbahnhof

Der Zürcher Hauptbahnhof ist für viele Menschen bloss eine Zwischenstation. Dabei gäbe es genug Gründe, etwas länger zu verweilen.

25. November 2018

Ein seltsames Gefühl, den Zürcher Hauptbahnhof anzusteuern, ohne ein wirkliches Ziel zu haben. Ich muss weder auf den ICE um 9.34 Uhr nach Basel, noch hetze ich zur S-Bahn, um die S5 nach Altstetten zu erwischen. Ich bin gekommen, um zu bleiben. Der HB, Dreh- und Angelpunkt des Schweizer Bahnverkehrs ist normalerweise kein Ort, der zum Verweilen einlädt. Der grösste Bahnhof der Schweiz ist der Anfang eines Abenteuers für all jene, die es in die Ferne zieht. Nach Zagreb, Paris, Budapest oder eine der vielen anderen europäischen Destinationen, die die Züge von Zürich aus anfahren. Ein Mekka für alle Pendlerinnen und Pendler, die der Arbeit oder des Studiums wegen in die Limmatstadt kommen, oder sie verlassen. Und nicht zuletzt eine Notstation für diejenigen, denen am Sonntagmorgen ein leerer Kühlschrank entgegengähnt und die deshalb rasch in der überfüllten Migros vorbeischauen, um Brot und Eier zu besorgen.

Die Stadt in der Stadt

Ich bin aber der Überzeugung: Der HB ist mehr. Ein soziales Geflecht unterschiedlichster Menschen, die hier aufeinandertreffen. Kunstwerke berühmter Künstler und Künstlerinnen verleihen dem Gebäude Prestige. Mal abgesehen von der aufwändigen Architektur des Gebäudes. Tausende Franken Umsatz werden hier jeden Tag gemacht. Die labyrinthartigen Gänge säumen etliche Geschäfte, Restaurants und Cafés. Nicht umsonst nennt sich die Einkaufswelt des Hauptbahnhofs Shopville. Mitten im Zürcher Kreis 1 steht eine kleine Stadt, ein Mikrokosmos, den es zu ergründen gilt. Deshalb begebe ich mich für einen Tag auf Erkundungstour und nehme mir vor, für einmal etwas genauer hinzuschauen, mir etwas mehr Zeit zu lassen. Der HB aus den Augen einer Besucherin, nicht einer Pendlerin.

Künzis Kunst

Während ich die Strasse Richtung HB entlangschlendere, beschliesse ich, durch den Bahnhofszugang zu gehen, der von der Europaallee herführt. Eine steile, breite Treppe führt neben den Rolltreppen hinunter. Beim Hinabgleiten blicke ich nach oben. Die holzverkleidete Decke und das abwechselnde Blinken der Neon-Kreise ziehen mich in ihren Bann. Es ist das Kunstwerk des deutschen Künstlers Carsten Höller, der die Installation zu Ehren des Zürcher Regierungsrats und Nationalrats Hans Künzi geschaffen hat. Künzi gilt als «Vater der Zürcher S-Bahn». Seit 2017 lässt sich das Denkmal bestaunen. Die leuchtenden Ringe zu seinen Ehren sollen die Bewegungssysteme symbolisieren, die Künzi mit der S-Bahn erschaffen hatte. Rund 400 Neonringe mit je 60 Zentimeter Durchmesser sind in einem L-förmigen Raster an der Decke angebracht. Die Ringe leuchten jeweils kurz auf, was einen Effekt von unterschiedlich schnell wandernden Kreisen erzeugt.

Hell und sauber empfängt mich das Bahnhofsgeschoss

2017 waren auch die Bauarbeiten beendet, bei denen der Zugang Europaallee von 10 auf 34 Meter erweitert wurde. Eine vergrösserte Schleuse für die zahlreichen Angestellten der Unternehmen in den Glaskomplexen der Europaallee. Hell und sauber empfängt mich das Bahnhofsgeschoss. Aber da fällt mir wieder ein, dass man von hier aus nicht besonders weit kommt. Die Passage Europaallee ist die einzige, die nicht direkt an die Untergrundgänge des HBs angeschlossen ist. Da mein Magen knurrt, nehme ich mir vor, mich auf die Suche nach einem Café zu machen, um etwas zu frühstücken. Obwohl auch hier verschiedene Take-Aways sicherlich guten Kaffee anbieten, bin ich auf der Suche nach einem Lokal, in dem ich es mir etwas gemütlich machen kann. Entlang Gleis 7 gehe ich in Richtung Bahnhofshalle. Die kühle Herbstluft weht mir an diesem Samstagmorgen entgegen. Es ist erstaunlich ruhig. Das Geläuf lässt noch auf sich warten.

Blick durch die Glasfront

In der Bahnhofshalle angekommen, visiere ich das Café «Time…» an. Ich war noch nie dort. Irgendwie hatte ich gedacht, dass das bloss 1. Klasse-Gästen vorbehalten sei. Dabei hat der Zürcher Hauptbahnhof die 1.Klasse-Lounge im Jahr 2016 abgeschafft. Das Angebot an Verpflegungs- und Erholungsmöglichkeiten sei auch so gross genug, hat es damals geheissen. Die Time-Lounge ist im Obergeschoss der Bahnhofshalle. Dunkles Mobiliar, eine Bar mit grossem Getränkeangebot, Holztische, an denen Freunde und Freundinnen zusammensitzen und Kaffee trinken. Andere haben sich in die Ecke zurückgezogen und brüten über Unterlagen, tippen geschäftig in ihre PCs. Die Front ist komplett verglast, weshalb sich mir ein guter Blick in die Halle auftut, wo die Passanten und Passantinnen vorbeilaufen. Nachdem ich meine heisse Schoggi getrunken und mein Gipfeli verspeist habe, rapple ich mich auf, um meine Entdeckungstour fortzusetzen.

Der dicke Engel

In der Wannerhalle bleibe ich einen Moment stehen, sehe den Menschen zu, wie sie mit ihrem Gepäck an mir vorbeiziehen. Manche stehen am Treffpunkt. Warten. Ein Stand wird gerade aufgebaut. Selten ist die Bahnhofshalle einfach leer. Die Digital Days fanden hier statt. Im Winter folgt nun der Weihnachtsmarkt. Und immer mit dabei: der bunte, 11-Meter-grosse, dicke Engel, der das Geschehen teilnahmslos verfolgt und an der Decke hängt. Der «L’ange protecteur» stammt von Niki de St. Phalle, der französischen Künstlerin, die mit ihren Nana- Figuren Weltberühmtheit erlangte. Seit 1997 wacht der 1,2-Tonnen schwere Engel über die Reisenden.

Lebenslinie des Bahnhofs

Das Kunstwerk war ein Geschenk der Securitas zum 150-jährigen Bestehen der Schweizerischen Bundesbahnen. In drei Teilen wurde der Engel von den USA über Rotterdam und Basel nach Zürich verschifft. Die Figur wird alle drei Monate abgestaubt. Die Künstlerin hat zur Kolorierung Wasserfarben benutzt, deshalb kann der Engel nur mit einem Staubwedel und einem Druckluftspray behutsam behandelt werden, sonst würde die Farbe verblassen. Saint Phalles Engel ist nicht das einzige Kunstwerk, das die Haupthalle ziert. Als ich die Rolltreppe ins mittlere Untergeschoss nehme, fallen mir die rot leuchtende Spirale und die nummerierten Tierfiguren auf, die an der Glasfront befestigt sind. Die Installation stammt vom Italiener Mario Merz. Die rote Spirale soll die Lebenslinie des Bahnhofes darstellen. Die Tiere stehen für das Kommen und Gehen im Bahnhof und in der ganzen Welt. Inspiriert wurde er von der Fibonacci-Folge, die eine Abfolge von Zahlen darstellt, um Spiralen zu berechnen.

Duschen für zwölf Stutz

Im Untergeschoss angekommen überlege ich mir, wie ich mich beschäftigen könnte. Shopping bis zum Umfallen ist sicher eine Möglichkeit, die sich hier aufdrängt. Ich staune darüber, wie man hier noch so absurde Bedürfnisse befriedigen kann. Ich könnte mir im Scherz- und Geschenkartikelladen ein leuchtendes Schweinchen kaufen, oder mich im exklusiven Weingeschäft beraten lassen, welcher edle Tropfen wohl am besten zu meinem geplanten Dinner passen würde.

Wie in der Badi ist es hier.

Ganze elf Kioske beherbergt der Zürcher Hauptbahnhof. Es sind elf von 201 Geschäften, die am HB um Kunden und Kundinnen buhlen. Und Toiletten gibt es zwei. Das wird mir schlagartig bewusst, als ich mich auf die Suche nach einer solchen mache. Ich lande dann im Zwischengeschoss. Dort finde ich das «Hygienecenter». Für zwei Stutz darf ich die drehende Barriere passieren und aufs Klo. Für zwölf Franken könnte ich sogar eine Dusche nehmen, um mich nachher vor einem der Spiegel zu föhnen und zurecht zu machen. Wie in der Badi ist es hier.

Männer in Massagesesseln

Nach meinem Schaufensterbummel drehe ich nun ein paar Runden im Zwischengeschoss. Die Bahnhofshilfe ist hier angesiedelt, die zum Bespiel Menschen mit Beeinträchtigung auf ihren Reisen hilft. Ich komme an zwei Männern vorbei, die wortlos nebeneinandersitzen und gebannt auf ihre Mobiltelefone starren. In den Ohren Kopfhörer. Sie sitzen in den Massagesesseln, die aber nicht an sind, und scheinen die Zeit totzuschlagen. Als ich ein paar Stunden später nochmals vorbeischaue, sind sie immer noch da.

Im Zwischengeschoss bleibt man von den Menschenmassen weitgehend verschont, es ist warm, und das WLAN funktioniert auch. Ein Ort der Zuflucht. Auch deshalb, weil hier die ökumenische Bahnhofskirche untergebracht ist. Als ich leise eintrete, sitzt da eine ältere Dame, die, die Hände verschränkt und den Kopf gesenkt, in der vordersten Reihe sitzt. Auf dem blauen Teppichboden stehen vier Stuhlreihen. Eine grosse Kerze mit verschiedenen religiösen Symbolen erleuchtet den Raum. Die Einrichtung steht allen Menschen offen, egal welcher Religion sie angehören. Seelsorger und Seelsorgerinnen stehen Redebedürftigen zur Verfügung. Ich zünde eine Kerze an und verlasse die Kirche.

201 Läden, elf Kioske, zwei WCs: das Shopville im HB.

201 Läden, elf Kioske, zwei WC's: das Shopville im HB.

Bierpfützen und Erbrochenes

Als ich aus dem Untergrund wieder zurück zur Halle kehre, mischen sich unter den üblichen Pendlerschwarm die Partywütigen, die meist aus der Agglo angereist sind, um sich in der Zürcher Clubszene auszutoben. Unter der Woche fahren zwischen zwölf und ein Uhr nachts die letzten Züge. Danach müssen alle Menschen den HB verlassen, da er für ein paar Stunden verbarrikadiert wird. Am Wochenende befördern Nachtzüge die ausgelaugten Clubbesucher und -besucherinnen wieder nach Hause. Für das Putzpersonal meist eine Zumutung: die Bierpfützen und das vertrocknete Erbrochene, von dem sie die Züge befreien müssen.

Aus einer Boombox dröhnt deutscher Rap. Ich glaube, Bushido zu erkennen. Mit mehreren Sixpacks Bier läuft eine Gruppe junger Männer in Richtung Sihlquai grölend an mir vorbei. Ich verstaue meine Kamera, schultere meinen Rucksack. Ein Blick auf die Schalttafel verrät mir, dass der nächste Zug nach Altstetten in 5 Minuten fährt.