Jonathan Progin

Stimmen von Herrndorf

28. Oktober 2018

Dieses Buch ist das Letzte. Keine weiteren neuen Texte des Hamburger Schriftstellers Wolfgang Herrndorf werden je erscheinen, daran lassen die Herausgeber im Nachwort keinen Zweifel. 2013 hat sich der krebskranke Autor das Leben genommen.

Den Grossteil der Texte hatte Herrndorf bereits in Internetforen veröffentlicht, unter dem Pseudonym «Stimmen». Und der gleichnamige Band spricht mit der unverkennbaren Stimme Herrndorfs. Es ist der gleiche ernste Blick auf kindliche Liebe, den man schon in «Tschick» lesen konnte. Auf berührende Weise zeigt Herrndorf die Unbeholfenheit im Lieben seiner jungen Helden.

Andere seiner Protagonisten in «Stimmen» erinnern an die Figuren aus «In Plüschgewittern»: Einsam um einen Platz in einer Ordnung ringend, in die sie so gar nicht passen. Figuren, bei denen man sich fragt, ob ein solcher Platz ihren Weltschmerz denn überhaupt lindern würde. «Stimmen» ist aber alles andere als ein Trauerspiel. In die teilweise tragischen Verstrickungen seiner Helden flechtet Herrndorf gekonnte Komik.

Herrndorf war auch begabter Maler. Das schimmert in seinen Texten durch. Stellenweise reichen wenige Pinselstriche, um vielschichtige Bilder entstehen zu lassen. Er braucht Zeilen, wofür andere Seiten brauchen.

Und nicht zuletzt zeigt sich Herrndorf wieder als Meister des Vergleichs: Wenn sich ein Protagonist fühlt, als wäre ihm, einer Tipp-Kick-Figur gleich, eine Eisenstange durch den Kopf gerammt worden – Herrndorf beweist Beobachtungsgabe und findet im Banalen Ungeahntes.

Der Band schliesst mit einer Sammlung von Gedichten aus der Feder des jungen Herrndorfs. Eine Neuheit in seinem bisherigen Werk. Und so entlässt «Stimmen» seine Lesenden denn auch mit einer neuen Intimität zu seinem Autor und gemischten Gefühlen. Denn: «Stimmen» bereitet Freude. Wir dürfen nochmals Herrndorf lesen! «Stimmen» stimmt aber auch traurig. Die Lektüre macht einem erneut schmerzlich bewusst, welche erzählerische Kraft mit Herrndorf von uns gegangen ist.

«Stimmen» von Wolfgang Herrndorf ist bei Rowohlt Berlin erschienen.