Wenn der Hund aus dem Teller frisst
Erste Szene: Ein Terrier bellt lauthals aus der Leinwand, sodass es das Publikum in den Sitz drückt. Das liebenswürdige Lächeln der Hauptfigur Marcello (Marcello Fonte) lässt es aber bald schon wieder entspannt in seiner Popcorn-Tüte wühlen. Gleich zu Beginn des Films erobert der schüchterne Marcello die Herzen des Publikums im Sturm. Umso schmerzvoller ist es deshalb zu sehen, in welche Schwierigkeiten ihn seine Gutmütigkeit bringt.
Marcello, der «Dogman», betreibt einen Hundesalon in einem heruntergekommenen süditalienischen Küstenort. Mit der Nachbarschaft pflegt er einen ausgesprochen guten Umgang, denn Marcello möchte es gerne allen recht machen. So ist er auch der einzige Mensch im Dorf, der noch zu dem von allen gefürchteten Muskelpaket Simone hält. Simone nennt Marcello seinen Freund, überredet diesen aber regelmässig zur Mithilfe bei Raubzügen und beim Beschaffen von Kokain. Obwohl sich Marcello dagegen zu wehren versucht, lässt er sich immer wieder aufs Neue ausnützen. Denn das ist Marcellos Problem: Er kann nicht Nein sagen. Besonders deutlich wird dies, als Marcello nach kurzem Ringen mit seinem bettelnden Hund nachgibt und ihn widerstandslos aus seinem eigenen Teller fressen lässt.
Vor dem Hintergrund eines trostlosen Italiens beschreibt Regisseur und Drehbuchautor Matteo Garrone die Konsequenzen des Ja-Sagens. Wo verliert der Mensch seine Unschuld, ab wann macht er sich schuldig? Gerade solche Fragestellungen verleihen dem Film Tiefe, der zunächst verdächtig nach einer weiteren David-gegen-Goliath-Geschichte ausgesehen hatte.
Die den ganzen Film durchziehenden Anspielungen auf die desolate Lage im heutigen Italien sind kaum zu übersehen. Auch sonst fehlt es dem ruhig erzählten Film nicht an symbolischer Sprache. Einige Szenen hinterlassen einen regelrecht kitschigen Nachgeschmack. So sind Episoden auf leeren Spielplätzen, Kokain im Stripclub, Unterwasseraufnahmen begleitet von getragener Musik und Bösewichte in Trainingsanzügen gewiss keine Neuerfindungen des Rads. Ausserdem ist der Handlungsverlauf zeitweise etwas vorhersehbar. In solchen Momenten aber kann die fesselnde Kameraführung von Nicolai Brüel darüber hinwegtrösten. Obwohl der ganze Film fast ausschliesslich in einem einzigen Dorf gedreht wurde, behält die Wucht der Bilder eine thriller-ähnliche Spannung im Raum.
Die gelungene Auswahl der Schauspielerinnen und Schauspieler sorgt für einen nie erschlaffenden Spannungsbogen. Die Figuren wirken glaubhaft und durchdacht, obwohl der Film nicht viel über ihre Hintergründe preisgibt. Für offene Münder sorgt die herausragende schauspielerische Leistung des dafür bereits mit der Goldenen Palme ausgezeichneten Marcello Fonte. Kaum zu glauben, durch welchen Zufall Regisseur Garrone diesen begnadeten, aber bisher gänzlich unbekannten Schauspieler entdeckte. Garrone, auf der Suche nach Protagonisten, wohnte in einem Sozialzentrum einem Laientheater bei und wurde dort auf den Hausmeister Marcello Fonte aufmerksam, der als Ersatz für einen verstorbenen Schauspieler kurzfristig einsprang.
Einen Film zu schaffen, der so sensibel und zugleich spannend, anspruchsvoll und zugleich unaufgeregt ist, zeugt von grosser künstlerischer Treffsicherheit. «Dogman» hinterlässt zufriedene Gesichter – bei grossen Kinofans genauso wie bei schüchternen Tinderdates.