Die Bibliothek ist zu klein

Das verästelte Bibliotheksnetz der Uni Zürich soll zentralisiert werden. Dagegen regt sich Widerstand: Viele fürchten einen Verlust an Autonomie und Diversität.

23. September 2018

Sie logieren in Villen oder fristen ihr Dasein in Grossbauten. Einige von ihnen halten sich in Türmen in luftiger Höhe auf, andere verstecken sich in Kellergeschossen tief unter der Erde. Der Grossteil von ihnen wandert ruhelos von Hand zu Hand, andere stehen für längere Zeit unbenutzt herum. Die Rede ist von den Aberhunderttausend Büchern, die sich auf die 39 Bibliotheken an der Uni verteilen. Besonders an der Philosophischen Fakultät unterhält praktisch jedes Institut seine eigene Bibliothek. Damit soll bald Schluss sein.

Zentralisierte Bibliothek

Der kantonale Richtplan will, dass die Universität in neue Bauten investiert. Er fordert aber auch, dass die Uni dem Kanton Gebäude zurückgibt. Die Bibliotheken, die sich darin befinden, werden verschwinden – zumindest in der Form, wie wir sie heute kennen.

Insgesamt 17 Bibliotheken werden in zwei riesige Neubauten einziehen; sie entstehen bis 2036 in zwei Etappen am Zentrum. Zusammen bilden sie die «UZH Bibliothek der Zukunft», die zentral gesteuert sein wird.

Entspannter Prorektor

Eine breite Allianz aus Professorinnen, Mittelbau-Angehörigen, Bibliothekaren und Studierenden bekämpft das Projekt. Darunter ist auch die Arbeitsgemeinschaft Bibliotheken, die sich vor allem aus Angehörigen der Philosophischen Fakultät zusammensetzt. Katarina Roberts von der AG sagt: «Eine Zentralisierung mag in gewissen Bereichen Sinn ergeben. Aber die Interessen der einzelnen Disziplinen müssen gewahrt werden.»

Prorektor Christian Schwarzenegger leitet das Projekt. Er sieht die Sache entspannt. «Die Bedürfnisse der einzelnen Disziplinen können in einer zentralen Struktur problemlos erfüllt werden. In der Leitung der neuen Universitätsbibliothek werden Vertreter und Vertreterinnen aus allen Fakultäten sitzen. Die Zentralisierung nimmt niemandem etwas weg.»

Geringere Kosten

Eine Bibliothek zu führen heisst heute nicht mehr nur, Bücher zu bestellen, sie aufzunehmen und systematisch zu ordnen. Ein immer grösserer Teil der Arbeit spielt sich online ab. «Alles, was die Planung von Projekten im digitalen Bereich anbelangt, können die einzelnen Fakultäten und Institute nicht alleine stemmen. Dazu braucht es dringend eine zentrale Struktur», so Schwarzenegger. Eine zentrale Bibliothek verursache zudem deutlich weniger Kosten. Und die Anschaffung von Büchern und Medien sei leichter zu überblicken. Im Klartext: Es müssen nicht mehr von ein- und demselben Buch mehrere Exemplare angeschafft werden.

Ausgelagerte Bücher

Denn auch das versteht das Team rund um Prorektor Schwarzenegger unter Digitalisierung. Wenn es nach ihnen ginge, könnten bis zu 15 Prozent der Bücher ausgesondert, weitere 35 Prozent zugunsten von Lernplätzen ausgelagert werden. Sie sollen dann auf Bestellung innert 24 Stunden verfügbar sein – oder kostenfrei als Digitalisate vorliegen. «Schon heute ist Standardliteratur vielerorts bereits online verfügbar. Da ist es doch aus Kostengründen sinnvoll, wenn man sie nicht an verschiedenen Standorten in Bücherform aufstellt», meint Schwarzenegger.

Eine Ansicht, die Roberts nicht teilt. «Studierende in den Geisteswissenschaften sind fast täglich in der Bibliothek. Das Stöbern in Büchern ist für sie Teil des Arbeitsprozesses», sagt sie. «Wenn sich nun ein grosser Teil der Bücher gar nicht mehr vor Ort befindet oder nur noch digital existiert, ist das nicht mehr gewährleistet.» Zumal nicht sicher sei, dass das Personal in einer zentralisierten Bibliothek immer noch so gut über die eigenen Bestände Bescheid wisse, wie die Fachpersonen in den heutigen spezialisierten Bibliotheken. Pablo Hubacher, ebenfalls Mitglied der AG Bibliotheken, betont: «Im Gegensatz zu anderen Disziplinen, ist Forschung in der Geisteswissenschaft nie veraltet. Was heute als alter Hut verschrien wird, kann morgen bereits wieder brandaktuell sein.» Deshalb gibt es für ihn keinen Grund, Bücher auszulagern, nur weil sie zurzeit nicht mehr so oft ausgeliehen werden.

Bücher und Lernplätze

Die AG Bibliotheken kritisiert zu Recht, zu wenig miteingebunden worden zu sein. Erst jetzt, wo das Projekt in seinen Grundzügen steht, hat sie ein Mitspracherecht erkämpft. Solange sie dieses dazu nutzt, um über das Stöbern in Büchern und die wohlige Atmosphäre in Kleinbibliotheken zu lamentieren, spielt sie Schwarzenegger in die Karten. Es ist für ihn dann ein Leichtes, ihre Mitglieder als hoffnungslos antiquierte Bücherliebhaberinnen und Fortschrittsgegner abzustempeln. Dabei nennen weder die AG noch Schwarzenegger das eigentliche Problem der Sache beim Namen.

Irgendwann wird Schwarzeneggers Team uns vor die Wahl stellen: Entweder Bücher oder Lernplätze. Wir müssen entschieden klarmachen: Studierende brauchen beides. Es ist keine Frage des «Entweder-Oder»; es ist eine Frage des «Sowohl-als-auch». Sollte das nicht möglich sein, ist das Verdikt klar: Die Bibliothek der Zukunft ist zu klein.

Offene Debatte

Das Projekt ist in der Vernehmlassung. Alle Parteien können sich jetzt in die Debatte einbringen. Zu hoffen ist, dass die Beteiligten sich auch auf Grundsatzdiskussionen einlassen. Denn ansonsten droht die «Bibliothek der Zukunft» zu einem schlechten Kompromiss zu werden. Und das will niemand.