Zürich Openair: Konsummaschine ohne Charme
Es ist ganz nah. Die Acts sind betörend. Doch wo bleibt die Seele des Zürich Openair? Ein Erlebnisbericht.
Jacqueline kotzt. Der leicht schäumende Vodka-Speichel-Magensäure-Saft fügt sich unscheinbar in die sumpfig-stinkigen Matsch ein, der vor wenigen Tagen noch eine Wiese war. Aus Versehen hat sie aus der Vodka- statt der Wasserflasche getrunken. Wir lachen mit ihr, essen die Pappteller leer, spicken die Zigaretten in den Acker und machen uns auf zu unserem ersten Programmpunkt.
Mit schlechter Vorahnung sind wir ans Zürich Openair gereist. Da war einerseits das Wetter, das dem ewig währenden Sommer mit einer Kaltfront einen harten Abschluss just zum Festivalauftakt hinklatschte. Andererseits waren da die Geschichten über den Festivalgründer: Zeltfirmen hat Rolf Ronner nicht bezahlt, mit zwei Firmen soll er herumgetrickst haben, um Schulden zu entgehen. Überrissene Gagen soll der Industriellensohn aus privater Tasche geboten und damit den ganzen Festivalmarkt verzerrt haben.
Jahrelang hatte er zudem den Polyball an der ETH organisiert, dieses biedere Relikt des stramm bürgerlichen Studententums. Und doch lockte das Zürich Openair uns und zehntausende andere Yuppies mit seinem auf urbane Indie-Rezeptoren zugeschnittenen Programm an wie ein Kuhfladen die Schmeissfliegen. An unserem verregneten Samstag allein erwarteten uns neben Alt-J die Zürcher Alternative-Ikone Evelinn Trouble, Bonaparte, Bonobo, Editors und Die Antwoord.
Von Hipstern für Hipster
Sandra friert und verpuppt sich samt Rucksack verzweifelt in einem hauchdünnen Wegwerf-Regenschutz. Auf der Bühne singen drei vollbärtige Männer mit Dauerstimmbruch seit einer Stunde das gefühlt gleiche Lied. Adrett aufgereiht stehen sie und rocken etwa so hart wie eine ICF-Celebration-Band. Darauf folgt die unweigerliche Frage, ob Alt-J religiös sind. Nach einer kurzen Recherche die Entwarnung: Weder mit Jesus noch mit der Alt-Right-Bewegung haben die US-Hipster etwas zu schaffen. Die Jungs sind so harmlos wie der Barrista deines nächsten Brooklyn-Style-Cafés.
Die letzten Regentropfen verteilen sich gleichzeitig mit den letzten Takten auf der Zuschauermasse; leere Becher und beinahe berstende Blasen treiben die Masse den jeweiligen Verrichtungsboxen zu.
Bereits zum achten Mal ging das jüngste Gross-Openair der Schweizer Festivallandschaft über die Bühne. Im ersten Jahr seiner Austragung kämpften die Organisatorinnen noch mit Bier- und Personalknappheit. Heute fliesst alles optimal. Auch die Bargeldlos-Strategie fand dieses Jahr nach einigen Experimenten seine nachhaltige Form – bezahlt wird nicht nur bargeld-, sondern auch kontaktlos. Bereit zur Bespassung stehen der Parisienne-Club und der Coke-Square, die Red-Bull-Bar und das Bierzelt, das sich als Feldschlösschen tarnt. Alles läuft reibungslos und wirkt so aseptisch wie ein Operationssaal. Könnte es an der Örtlichkeit liegen? An diesem Waldrand zwischen dem Ende der Landepiste und den Tanksilos des Flughafens, mit dem Charme des Drehorts einer Vergewaltigungsszene in einem skandinavischen Arthouse-Film?
Als hätte er einen Schlag in die Magengrube erhalten, starrt Oli fassungslos zur Bühne. Der Vater aller Bässe springt wie ein Höllenhund auf Knopfdruck von Simon Green alias Bonobo durch das Zelt, das in Ekstase vibriert. Drei Bläser spielen wie Don Quijotes mit ihren Trompeten gegen den übermächtigen Donnergroll an; die feenhaft geraunten Liedtexte der Sängerin Szjerdene bleiben ungehörte Geheimnisse.
Kläglicher Versuch eines Telefongesprächs bei laufendem Konzert – die Gruppe hat ihr erstes Mitglied verloren. Schliesslich Truppenverschiebung zu Die Antwoord, Verlust: 2 Personen. Der Mob umfasst uns gänzlich und springt enthusiastisch in wildem Pogo, solange der Takt schlägt. Zwischen den Tracks gespenstische Gleichgültigkeit in den Gesichtern.
Zusammenrücken für das dicke Baby
Die potenteste Anlage der Welt musste es sein. Bis die Lärmklagen das Zürich Openair zwangen, ein paar Töne leiser zu treten. Das Festival hat sich eingepasst, oder besser gesagt sind alle ein wenig zusammengerückt, um den dicken Neuankömmling Platz zu machen. Die Organisatoren der Winterthurer Musikfestwochen führen ihr Festival nun eine Woche früher durch, damit sich die Hauptacts nicht mit der nahen Konkurrenz überschneiden. Noch immer geniesst Gründer Rolf Ronner nicht den besten Beruf in der Branche, doch zwangsläufig haben sich alle an ihn und sein Retortenfestival gewöhnt.
Halb Zwei Uhr, der hineingeschmuggelte Schnaps geht zur Neige. Zwei aus der Gruppe haben sich bereits per SMS verabschiedet, die Verbliebenen stützen sich gegenseitig bis zum Bahnhof. Ein schaler Nachgeschmack und Bierfahnen machen sich in der S-Bahn breit. Zum Glück ist das Bett nicht weit. War es der Regen? Das Publikum? Unsere eigene Gruppendynamik? Die durchkommerzialisierte Veranlagung, die dem Zürich Openair die Blässe eines Untoten verliehen hat? Am Ende bleiben auf jeden Fall nur zwei gutzürcherisch-pragmatischen Argumente, die die Daseinsberechtigung des Festivals ausmachen: die geilen Acts und die gute Verkehrsanbindung.