Gianni D’Amato, Professor für Migrationsgeschichte

«Es geht um Solidarität»

Gianni D’Amato erforscht Mobilität und Migration. Ein Interview über Marktwirtschaft und das Europa der Zukunft.

13. Mai 2018

Von «Migration» und «Flucht» ist beinahe täglich die Rede. Aber wie sind diese Begriffe zu trennen?

Grundsätzlich bedeutet Migration, dass eine Person von einem Land in ein anderes übersiedelt und sich dort dauerhaft aufhält. Das trifft beispielsweise auch auf Studierende zu, die ihren Master an einer anderen Universität machen. Flucht ist insofern als Sonderform von Migration zu verstehen, als sie immer unter einer bestimmten Form von Zwang geschieht. Dieser Zwang kann etwa dann entstehen, wenn einem Menschen Gewalt droht.

Was wir in den letzten Jahren erlebt haben, ist also gar nichts Neues?

Nein, absolut nicht. Neu sind vor allem die aktuellen Konfliktregionen, aus denen diese Menschen nach Europa kommen. Anders als während dem Kalten Krieg sind diese Konflikte weiter entfernt und schwerer in Freund-Feind Schemen einzuordnen.

Warum treibt das Thema die Gesellschaft so um?

Das hat mit den Schutzrechten des Flüchtlingsstatus zu tun. Staaten, die Schutz gewähren, müssen überprüfen, ob Menschen gemäss der Genfer Flüchtlingskonvention Anrecht auf Asyl haben, weil sie aufgrund bestimmter Eigenschaften verfolgt werden. Daneben gibt es andere Motive der Flucht, die auch mit bedrohlichen Situationen zu tun haben können. Nebst der rechtlichen gibt es aber auch eine gesellschaftliche Erörterung: Mit wem sind wir solidarisch und mit wem nicht? Diese Auseinandersetzung ist nicht immer schön und hat mit dem Selbstbild einer Gesellschaft zu tun: wie exklusiv wollen wir sein, wer verdient unsere Hilfe?

Und schon haben wir die politisierte Debatte.

Genau, das seit 1995 gültige Dubliner Abkommen hat die Debatte letztlich weiter politisiert. Laut diesem Abkommen sind die Erstaufnahmeländer für die Überprüfung der Asylanträge und den Aufenthalt zuständig, sprich: die Mittelmeeranrainer im Süden der EU. Italien hat sich seit einigen Jahren für die mangelnde Solidarität revanchiert, indem das Abkommen kalt boykottiert worden ist. Im Anschluss daran hat der Norden sich über die mangelnde Vertragstreue Italiens beklagt. So ist das System 2015 implodiert und wird nun wieder in Gang gesetzt. Wir dürfen nicht vergessen, dass Solidarität zwischen Menschen wie auch Staaten Geld kostet. Und das hat auch eine innenpolitische Komponente, die immer entscheidender wird.

Wie bewerten Sie die Situation in der Schweiz?

Die Schweiz hatte in den letzten Jahren eine relativ hohe Asyl- und Schutzquote. Im Vergleich etwa zu Deutschland ist es der Schweiz auch ziemlich gut gelungen, die Menschen rasch in die bestehenden Infrastrukturen zu integrieren.

Wegen der «Masseneinwanderungsinitiative»?

Diese Initiative hat sich eigentlich weniger gegen Geflüchtete gerichtet als gegen die EU. Die SVP wollte den Inländervorrang wieder einführen und die Zulassungen den Bedürfnissen der Wirtschaft anpassen. Letztlich sollte die privilegierte Gleichstellung von EU-Bürgern in Frage gestellt werden. Diese Debatte um die Beschränkung von Privilegien findet zur Zeit auch im Vereinigten Königreich statt.

Wie meinen Sie das?

In einer zunehmend globalisierten Welt kommt das Narrativ des autonomen Nationalstaates, der allein über seine Grenzen bestimmt, an sein äusserstes Limit. Europa wird sich Gedanken machen müssen, wie der Sozialstaat der Zukunft aussehen und organisiert sein soll, so dass er Erfordernissen des Schutzes vor Risiken und den Anforderungen des Marktes und der Mobilität gerecht wird. Wenn Grossbritannien da nicht mehr mitmacht, ist das verkraftbar. Sollten allerdings weitere Länder einen ähnlichen Weg einschlagen, droht das Unternehmen EU zu scheitern.

Heisst das eine Aufweichung des Nationalstaates?

Nein, das glaube ich nicht. Auch künftige Formen der Vergemeinschaftung werden ohne den Nationalstaat nicht zu bewerkstelligen sein. Ich würde sogar sagen, dass der Nationalstaat weiterhin eine zentrale Rolle spielen wird. Aber einzelne Institutionen, die alle Staaten für sich geschaffen haben, werden umgestaltet werden müssen. Je enger Europa zusammenrückt, desto mehr müssen Nationalstaaten Konvergenzen suchen, die ihre Bevölkerungen tragen. Das ist im Moment sicherlich noch nicht befriedigend gelöst.

Wir reden über Migration, dabei geht es um den Markt. Geht da der Mensch nicht verloren?

Natürlich geht es bei Migration primär um Menschen. Aber auch in Destinationsländern leben Menschen. Und wenn etwa die Schweiz entscheiden würde, alle Geflüchteten in Genf unterzubringen, würde man sich in Genf zu Recht fragen, warum der Thurgau nichts zur Bewältigung dieser Herausforderung beiträgt. Also brauchen wir Verfahren, die sicherstellen, dass ein Mindestmass an Solidarität eingehalten wird. Und diese Verfahren erfordern nun einmal sehr viel Abstimmung, auch wenn nicht alles gesteuert werden kann.

Für die Einzelnen bedeutet das, dass erst einmal ein paar Jahre lang überhaupt nichts passiert.

Es gibt vermehrt Stimmen, die fordern, dass Eingewanderte schneller auf den Arbeitsmarkt kommen. Das würde ich als sehr wichtigen Paradigmenwechsel bezeichnen. Allerdings gestaltet sich die Umsetzung als ziemlich anspruchsvoll. Die Staaten legen Bedingungen fest, die für eine Aufnahme der Menschen erfüllt sein müssen. Aber die Arbeitsmärkte funktionieren nach eigenen Regeln. Kanada hat beispielsweise lange Zeit die Einwanderung mit einem Punktesystem geregelt, in der hohe formelle Qualifikationen die Chancen zur Einwanderung erhöhten. Das führte aber mitunter dazu, dass Kanada die höchste Dichte an Medizinern gehabt hat, die als Taxifahrer arbeiten mussten. Denn liberale Einwanderungskriterien ändern nicht unbedingt die Zulassungskriterien zu einer Profession, die sehr wohl eine Logik der Qualitätssicherung haben können, aber vielfach ausschliessend wirken.

Migration als verpasste Chance der Ankunftsländer?

Unsere Vorstellungen von Liberalismus sind widersprüchlich. Wenn es um die Anerkennung von Qualifikationen geht, finden sie immer Gruppen, die ein Interesse daran haben, den hiesigen Arbeitsmarkt vor Konkurrenz zu bewahren.

Könnte man sagen, dass Migration vor allem eine innenpolitische Herausforderung ist?

Ich sehe die Herausforderung auf drei Ebenen. Gesellschaften müssen innenpolitisch den Konsens zur Diversität herstellen. National verfasste Staaten stehen in einer zusehends globalisierten Welt immer weniger für sich. Sie müssen mit ihren Nachbarländern interagieren und letztlich auch in Fragen der Migration miteinander einen Konsens finden, der nicht ein „race to the bottom“ ist. Das ist die zweite Ebene. Und dann gibt es noch die globale Ebene. Das Ziel muss sein, für alle drei Ebenen Solidarität herzustellen.

Wie können wir als Einzelne mit Migration umgehen?

Wichtig ist, dass wir im Umgang miteinander einen Kompass haben. Dieser ergibt sich beispielsweise durch unsere Verfassung. Sie regelt die Voraussetzungen für eine friedliche Koexistenz, sie ist die «Bibel der Bürgerinnen und Bürger». «Shared Citizenship» muss von allen ausgeübt werden und benötigt echte Begegnungen, die nicht immer frei von Streit und Dissens sein werden. Mit anderen Worten: Konflikte gehen über die Migrations- oder Flüchtlingsthematik hinaus und sind Teil des Integrationsprozesses jeder Gesellschaft. Sie sind ein existenzieller Bestandteil von Demokratien, da es in komplexen Gesellschaften keine Patentlösungen gibt. Und wenn langwierige Streitigkeiten einen positiven Ausgang nehmen, gehen Verfassung und Demokratie gestärkt aus ihnen hervor.

Prof. Gianni D’Amato forscht an der Universität Neuchâtel zu Migration und nationalen Identitäten und er ist Direktor des nationalen Kompetenzzentrums für Mobilität und Migration.