Angeklagte Akademie
Forschende wollen sich in der Türkei für den Frieden einsetzen. Deswegen wird ihnen massenweise der Prozess gemacht.
Vor zwei Jahren herrschten im Südosten der Türkei kriegsähnliche Belagerungszustände. Betroffen waren Städte wie Cizre, Sırnak, Nusaybin oder auch einzelne Stadtteile wie Sur, das Altstadtviertel von Diyarbakır. Nach der Aufkündigung des Friedensprozesses mit der in der Türkei verbotenen PKK gingen die türkischen Sicherheitskräfte nicht nur unerbittlich gegen den mehrheitlich von Jugendlichen selbstorganisierten Widerstand, sondern gegen die kurdische Zivilbevölkerung im Allgemeinen vor. Sie verhängten tage- und wochenlange Ausgangssperren, beschossen Wohnviertel und setzten dabei schweres Geschütz ein und legten so gesamte Stadtteile in Schutt und Asche. Scharfschützen erschossen dabei gezielt Zivilistinnen und Zivilisten.
Für den Frieden
Vor diesem Hintergrund wurde im Januar 2016 unter dem Titel «Wir werden kein Teil dieses Verbrechens sein» eine Petition für Frieden lanciert. Diese unterzeichneten zunächst auch 1128 Akademiker und Akademikerinnen. Die Reaktion der türkischen Regierung fiel vehement aus: Zwischen September 2016 und April 2017 verloren rund 500 Akademikerinnen und Akademiker für den Frieden ihre Stelle, andere wurden faktisch zum Rücktritt gezwungen. Die Universitäten eröffneten Disziplinarverfahren, zudem entzogen die Sicherheitsbehörden suspendierten Dozierenden teilweise sogar die Reisepässe. Es kam zu Verhaftungen – viele Akademiker und Akademikerinnen für den Frieden stehen heute wegen «Terrorpropaganda» vor Gericht.
Von Petition zu Propaganda
Im Dezember 2017 begannen in Istanbul die ersten Gerichtsverfahren. Entgegen der Gewohnheit in der Türkei, Massenverfahren mit mehreren hundert Angeklagten zu führen, wurden gemäss Human Rights Watch im Dezember letzten Jahres 146 Akademikerinnen und Akademiker in Einzelverfahren angeklagt. Individuell sind die Verfahren trotzdem nicht, denn abgesehen vom Namen ist die Anklageschrift bei allen die gleiche. Angesichts der hohen Zahl an Personen, die die Petition ursprünglich unterschrieben haben, kommen immer wieder neue Verfahren hinzu – laut Angaben Betroffener ist die Zahl der Verfahren heute bis auf 263 angestiegen.
In fünf Fällen fällte die Justiz bereits ein Urteil – alle Angeklagten wurden für schuldig erklärt, in vier Fällen wurde die Verkündung der Strafe aber gestützt auf eine Regelung im türkischen Strafrecht bis zu einer allfälligen weiteren Verurteilung aufgeschoben. Die fünfte Person soll für 15 Monate ins Gefängnis.
Der Repression zum Trotz
Der Fall der Akademiker und Akademikerinnen für den Frieden zeigt: Politische Kritik führt in der Türkei heute schnell zu einem Terrorverfahren – im aktuellen Angriff auf die türkische Demokratie wird keine Stimme verschont, schreiben die Akademikerinnen und Akademiker für den Frieden auf ihrem Blog. Trotzdem: Die Friedensbewegung verstummt nicht. So haben etwa von der Universität Kocaeli Entlassene im September 2016 die «Kocaeli-Akademie der Solidarität» eröffnet. Sie setzen ihre Forsch- und Lehrtätigkeit, so gut es geht, fort und bieten wöchentlich öffentliche Seminare an. Zudem demonstrieren sie auch vor Gericht Solidarität, indem sie an Gerichtsterminen teilnehmen und damit ihre Kollegen und Kolleginnen unterstützen.