Kein Buch bleibt auf dem anderen
Die Uni möchte ihre Bibliotheken zusammenlegen. Dadurch droht eine Tradition verloren zu gehen. Eine öffentliche Debatte ist noch nicht ausgebrochen.
Du sitzt in der Bibliothek und schreibst an einer Arbeit, neben dir türmen sich die Bücher deiner Recherche. In der Pause bekommst du von jemandem einen Tipp und stösst auf drei vielversprechende Werktitel. Du holst dir die Bücher aus dem Regal.
Der Plan
Diese Szene ist klischiert, aber im Kern allen geläufig. Das Arbeiten in der vertrauten Institutsbibliothek, der überschaubare Präsenzbestand, der Austausch mit Mitstudierenden. Dies alles ist Teil der universitären Bibliothekstradition in Zürich. Und dies alles droht nun zu verschwinden: Im letzten Juli hat die Unileitung die Zentralisierung sämtlicher Uni-Bibliotheken beschlossen.
Die Zentralisierung
Die Leitlinien zu diesem Projekt klingen nach einer Zukunft mit einer imposanten Universitätsbibliothek Zürich (UBZH). Mit der Zentralisierung sollen sowohl die digitale als auch die physische Organisation effizienter werden, und man will neue interdisziplinäre Lernräume schaffen. Ein Schulterschluss unter Berücksichtigung aller Beteiligten von Forschung über Lehre bis zum Mittelbau und zu den Studierenden.
Hört man sich links und rechts um, verliert die Bibliothek der Zukunft ihren Glanz. Im Mittelbau brodelt es, Professorinnen und Professoren sind besorgt. Die Zusammenlegung betrachte man mit äusserster Skepsis, meint Ulrich Eigler, Professor für Klassische Philologie, «da es für die Buch-orientierten Fächer einen massiven Eingriff in ihre Forschungs- und Lehrkultur bedeutet, die am Standort Zürich im Moment noch als geradezu ideal zu bezeichnen ist.» Man fordere eine stärkere Einbeziehung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, meint Eigler weiter. Das Expertenwissen müsse die Basis für Entscheidungen sein und nicht blosse Erwägungen modernen Bibliotheksmanagements.
Laut den Leitlinien wird Eiglers Anliegen Rechnung getragen. Dort wird betont, dass in der Bibliothek der Zukunft trotz der Zentralisierung das Prinzip der Eigenverantwortung herrsche. Den In-stituten wird ein ausdrückliches Mitbestimmungsrecht eingeräumt. Ob das so umgesetzt wird, wenn sich bereits in der Planung nicht alle einbezogen fühlen, ist fraglich. Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter der Philosophischen Fakultät meint, er fühle sich von der Unileitung mit naturwissenschaftlichem Hintergrund nicht ernst genommen. Es seien natürlich auch Leute aus den Geisteswissenschaften an diesem Projekt beteiligt, diese agierten aber mit der Unileitung in einer Blase und verträten nicht den ganzen Mittelbau.
Die Digitalisierung
Auf der Website ist Folgendes zu lesen: «Das Bibliothekswesen steht angesichts der fortschreitenden Digitalisierung vor grossen Herausforderungen. Die Universität Zürich verfügt über ein Bibliothekssystem, das durch seine dezentralen Standorte wenig gerüstet ist, diesen Herausforderungen zu begegnen.» Die Digitalisierung und die dezentrale Struktur der Universitätsbibliotheken sind unbestrittene Tatsachen. Dass Letzteres sich nicht mit Ersterem vertrage, wird zwar behauptet, ist aber nicht nachvollziehbar. Gerade digitale Möglichkeiten überwinden physische dezentrale Strukturen.
Ähnlich sieht das Michele Loporcaro, Ordinarius für Romanische Sprachwissenschaften: «Niemand zweifelt daran, dass Digitalisierung immer wichtiger wird und dass eine effiziente Bibliothek Digitalisate beziehungsweise online verfügbare Literatur kompetent verwalten muss. Die stillschweigende Annahme jedoch, dass sich die bisherige Forschungsinfrastruktur dadurch erübrigt habe, sowie die Annahme, dass man deswegen keine forschungsnahen dezentralen Bibliotheken brauche, ist für viele Bereiche der Geisteswissenschaften grundsätzlich falsch.»
Die Probleme
Damit ist der Kern des Problems getroffen. Das Zukunftsszenario beschreibt die Digitalisierung und die vermehrte Nutzung der Bibliotheken als Lernräume. Und die Folgerung daraus sind eine vorläufige Reduktion von 80 auf 20 Bibliotheken bis 2025 und partielle Auslagerungen des Bestandes in Magazine wie die bereits bestehende Speicherbibliothek in Büron. Die hier suggerierte Kausalität ist nicht nachvollziehbar.
Das zweite Problem dürfte die Differenz zwischen Natur- und Geisteswissenschaften sein. Häufig ist die Digitalisierung in ersteren weiter fortgeschritten. Den Stellenwert der Bibliotheken in den Geisteswissenschaften vergleicht Loporcaro mit jenem der Labore in den Naturwissenschaften. Niemand würde auf die Idee kommen, mehr Lernräume für Studierende der MNF durch eine Halbierung der Labore zu erzielen.
Der Romanist weist auch die Kritik an der Kritik entschieden zurück: Die Skepsis gegenüber der Zentralisierung werde als Verklärung von Stubengelehrten dargestellt, welche auf ein Auslaufmodell fixiert seien. Dies hiesse jedoch, dass die Uni in den Geisteswissenschaften jahrzehntelang eine verfehlte Berufungspolitik betrieben hätte. Das Gegenteil sei der Fall: «Die Uni zieht exzellente Forscherinnen und Forscher gerade auch in diesen Disziplinen an, weil sie über eine vorzügliche, international kompetitive, über Jahrhunderte gewachsene und mit Steuergeldern finanzierte Forschungsinfrastruktur verfügt: die Seminarbibliotheken. Unsere Labore.»
Der Aufruf
Die Leitlinien verbreiten Aufbruchstimmung. Aspekte wie die digitale Zentralisierung, partielle Zusammenschlüsse oder Interdisziplinarität sollten nicht a priori verworfen werden. Es erschliesst sich jedoch nicht, weshalb eine solche, O-Ton Loporcaro, «Rosskur» die einzige und beste Lösung sein sollte. Noch ist das Projekt in Planung, der multilaterale Charakter wird betont. Auch der VSUZH ruft dazu auf, eigene Meinungen zur UBZH kundzutun. Nehmen wir die Chance wahr und denken wir mit, wie die Bibliothek der Zukunft aussehen soll – und wie nicht! ◊