«Es ist dumm, die Jugend unfähig zu nennen»
Ursula Alder ist Rektorin am Realgymnasium Rämibühl. Sie weiss, wie abhängig die Mittelschule von der Uni ist. Und findet das Gymi trotzdem ausgezeichnet.
Worin besteht die Aufgabe der Gymnasien?
Im Reglement über die Anerkennung von gymnasialen Maturitätsausweisen vom 15. Februar 1995 wird der Auftrag der Gymnasien wunderbar beschrieben und hat für uns immer noch Gültigkeit. Als Auftrag der Gymnasien werden Gesellschaftsreife und Vorbereitung auf wichtige Aufgaben sowie eine breite Allgemeinbildung genannt. Persönlichkeitsbildung ist uns an den Gymnasien ebenfalls sehr wichtig. Empathiefähigkeit und eigenständiges Denken möchten wir bei den Schülerinnen und Schülern ausserdem genauso fördern wie Auftrittskompetenz, das ist später auch an der Uni gefragt.
Die Schülerinnen und Schüler, die ins Gymnasium kommen, sind noch Kinder. Wie sinnvoll ist es, sie für die Uni zu formen?
Eine grosse, wenn nicht die Hauptaufgabe ist die Vorbereitung auf die Hochschule. Aber wir verwenden auch viel Zeit und Energie darauf, die Persönlichkeitsbildung zu unterstützen. Die Zeit zwischen 12 und 18 Jahren ist sehr prägend, weswegen auch die Förderung der Selbstkompetenz und Selbstwirksamkeit wichtig ist. Wir am Realgymnasium haben beispielsweise einen Solidaritätsverein an der Schule, wo Schülerinnen und Schüler Projekte wie Kuchenverkäufe oder Sponsorenläufe organisieren können. Die Lernenden haben immer wieder neue Ideen und merken, dass sie etwas auf die Beine stellen können. Für die Uni ist es dann nicht mehr so wichtig, wie sich die Studentin oder der Student fühlt, es ist einfach die Leistung gefragt.
Sie sind seit 1998 Lehrerin am Gymnasium Rämibühl und seit 2010 Rektorin. Wie hat sich das Gymnasium verändert?
Die Profilwahl hat sich beispielsweise verschoben. Früher war es üblich, dass man das altsprachliche Profil gemacht hat. Vor etwa 10 oder 15 Jahren erlitt es einen Einbruch und jetzt ist es auf circa 20 Prozent geschrumpft. Das neusprachliche und das mathematische Profil sind hingegen sehr stark und nehmen noch zu. Diese Verschiebung der Profilwahl hängt bestimmt auch mit der Uni zusammen. Der Entscheid der Universität Zürich, die Lateinpflicht nicht mehr so stark zu gewichten, hatte somit einen starken Einfluss auf die Wahl der Gymnasial-Profile.
Was halten Sie von der zentralen Aufnahmeprüfung?
Die zentrale Aufnahmeprüfung hat man vor allem aufgrund der Chancengleichheit eingeführt. Es wurde aber festgestellt, dass Schulen mit einem Einzugsgebiet wie dem unseren immer noch eine viel höhere Bestehensquote haben als andere Gebiete. Bezüglich Chancengleicheit muss man nicht erst bei der zentralen Aufnahmeprüfung ansetzen, sondern viel früher, im Kindergarten.
Wie beeinflusst die Digitalisierung das Gymi?
Die Digitalisierung spielt sicher eine grosse Rolle. In meinen ersten vier Jahren als Kantonsschullehrerin sind die ersten Computer in den Klassenzimmern aufgekommen. Die zweite Welle hat mit der grossen Verbreitung der Smartphones und des WLAN begonnen. Diese zweite Digitalisierungswelle ist viel grös-ser und betrifft auch die Arbeitswelt und die Uni. Alle sprechen über Digitalisierung, aber niemand weiss so richtig, was man damit macht. Manche fragen sich auch, ob man Schule noch lange so wird betreiben können oder ob alles virtuell werden wird. Was ist die Rolle der Lehrperson, ist die nur noch ein Coach oder braucht es sie gar nicht mehr? Das sind vielleicht eher Befürchtungen, die niemand so richtig glaubt.
Schmälert die Digitalisierung nicht die Rolle des Gymnasiums?
Die Schule als Ort ist sehr wichtig, vielleicht sogar noch wichtiger in dieser total digitalisierten Welt. Gymnasien können ein Ort sein, wo Leute zusammenkommen und sich austauschen können über das Wissen, welches im Digitalen einfacher zugänglich ist. Das Gymnasium quasi als Ort, als Halt, als Leuchtturm in diesem Ozean des Wissens, wo es dann auch darum geht, herauszufinden, was brauchbares Wissen ist und was nicht.
Sind 13 Fächer überfordernd?
Ich sehe diese Entwicklung durchaus kritisch. Ich finde, dass Allgemeinbildung wichtig ist und Informatik im 21. Jahrhundert ganz klar ans Gymnasium gehört. Aber kürzt man dafür etwas anderes? Auf keinen Fall – man will eine fachliche Breite bewahren. Aber irgendwann ist es dann zu viel. Es ist wichtig, dass wir neue Impulse aufnehmen, aber man kann nicht immer noch mehr in noch kürzerer Zeit machen.
Haben sich die Sparmassnahmen der letzten Jahre auf die Gymnasien ausgewirkt?
Gewisse Schulen haben das Freifach-Angebot gekürzt. Bei uns am Rämibühl wurden die Sparmassnahmen so abgefangen, dass man die Schüler-Mindestanzahl etwas raufgesetzt hat. Allerdings hat sich das Bewusstsein geändert, eine gewisse Bedrohung ist spürbar geworden. Als ich noch als Schülerin am Gymnasium war, gab es kleine Kurse wie Griechisch mit etwa drei Schülern. Dazumal musste man sich um Kursgrössen keine Gedanken machen, während es mittlerweile ganz klar ist, dass es eine Mindestanzahl an Schülern pro Fach gibt. Zudem gibt es immer sehr grosse Regelklassen.
Und die Lehrpersonen?
Durch die Sparmassnahmen wurden die Pensen der Lehrpersonen erhöht, für Sprachlehrpersonen um eine Lektion pro Woche. Dazu kommen weniger Entlastungen für immer mehr Aufgaben. Das ist nicht motivierend und kann sich auch auf die Gesundheit der Lehrkräfte auswirken.
Gibt es Spannungen zwischen den Anforderungen der Universitäten und dem Bildungsauftrag der Gymnasien?
An der Uni wird geklagt, dass die Maturandinnen und Maturanden kein Deutsch oder keine Mathematik können. Wir sehen das ganz anders. Ein Germanistik-Professor und eine Jus-Professorin haben andere Schwerpunkte, was die deutsche Sprache angeht. Pauschal zu sagen, dass die Gymnasiastnnen und Gymnasiasten kein Deutsch könnten, macht keinen Sinn. Wir am Gymnasium finden, dass wir unsere Schüler sehr gut ausbilden, sowohl in sprachlichen als auch in mathematisch-logischen Fähigkeiten. Aber natürlich ist die Botschaft bei uns angekommen. Da müssen wir jetzt schauen, ob man in diesem Bereich noch etwas verbessern kann.
Früher wurden die Grundlagenfächer doppelt gewichtet. Wäre eine Rückkehr zum alten System eine Lösung?
Es gibt Lehrpersonen, gerade im Fachkreis Mathematik, die das verständlicherweise sehr begrüssen würden. Aber ich spürte bis jetzt keinen grossen Konsens in Schulleiterkreisen dafür. Die Gleichgewichtung aller Fächer war ein Demokratisierungsprozess innerhalb der Schule, und deswegen glaube ich nicht, dass man zur Priorisierung einzelner Fächer zurückkehren würde. In anderen Kantonen gibt es Ansätze wie die 19-Punkte-Regel, um die tiefen Mathematik-Leistungen zu verunmöglichen. Dabei muss die Summe der fünf tiefsten Noten bei der Matur mindestens 19 Punkte betragen.
Hat sich das Schulische über die Jahre verändert?
Es ist wohl etwas in der Gesellschaft verankert, dass man das Gefühl hat, dass früher alles besser war und man viel mehr konnte. Man hört immer wieder, dass die Jugend heute weniger könne und wisse. Das scheint etwas Menschliches zu sein. Ich kann dem aber überhaupt nicht beipflichten. Zu behaupten, dass die heutigen Leute weniger intelligent seien, das finde ich eine wirklich dumme Aussage. Wieso sollte eine Intelligenzabnahme stattfinden?
Gleichzeitig bemängelt die Uni, dass Erstsemestrige nicht selbständig denken könnten.
Es erstaunt mich, das zu hören, weil wir genau dieses kritische Denken fördern wollen. Am Gymnasium können wir den Schülerinnen und Schülern mehr Raum geben als an der Uni, die ausschliesslich leistungsorientiert ist. Dass Aufgabentypen, bei denen die eigene Meinung der Schüler und Schülerinnen gefragt ist, auch in Prüfungen eingebaut werden, ist uns ein grosses Anliegen.
Wie bereiten die Gymnasien Maturanden und Maturandinnen auf den Uni-Alltag vor?
Der Ausbau der Studienberatung an Gymnasien war ein grosses Projekt der Bildungsdirektion – alle Kantonsschulen wurden zur besseren Unterstützung der Schülerinnen und Schüler bei der Studienwahl angehalten. Das Informationsangebot haben wir deshalb ausgebaut, dabei aber hauptsächlich auf Freiwilligkeit gesetzt. Das muss ich nun überdenken, weil die Angebote recht bescheiden wahrgenommen werden. Beim Buddy-System der Uni kamen beispielsweise nur etwa zehn Maturanden. Das finde ich unbefriedigend, weil es dann wieder heisst, dass wir zu wenig machen. Dabei werden die Informationsgefässe, die es gibt, einfach zu wenig wahrgenommen.
Und doch schliesst über ein Drittel der Studierenden ihr Studium innert zehn Jahren nicht ab.
Natürlich ist es volkswirtschaftlich gesehen nicht schön, aber auch wenn jemand seinen Studiengang abbricht oder wechselt, empfinde ich diese zwei Studienjahre nicht als verloren. Denn diese haben der Person sicher etwas gebracht. Ich glaube auch nicht, dass diese Quote dramatisch runtergehen wird mit zusätzlichem Aufwand. Denn wir können bloss vage Vorstellungen vom Studium vermitteln, aber wie ein Studiengang tatsächlich ist, merkt man erst, wenn man in einem Seminar sitzt und Arbeiten schreibt und dann auch Feedback kriegt.
Was müsste am Dialog zwischen dem Gymnasium und der Universität verändert werden?
Es gibt ja dieses Projekt HSGYM, Hochschule – Gymnasium, wo man zwei Mal jährlich zusammenkommt, je nach Fachgruppe auch öfter. Ich bin in der Fachgruppe Englisch. Dort sind wir froh, dass eine Vertreterin der Uni jeweils vorbeikommt. Ich frage mich aber, ob dieser Austausch genügt, um alle Forderungen umsetzen zu können. Zum Beispiel wird verlangt, dass Abgängerinnen und Abgänger besser auf das Englisch an der Uni vorbereitet werden. Es ist zwar super für uns Anglisten, wenn eine Anglistikprofessorin mit uns den Austausch pflegt. Aber wäre es eigentlich nicht spannender für die Englischlehrpersonen, wenn andere Profs kämen? Gerade die Studierenden, die dann Englisch studieren werden, werden wohl genügende Englischkompetenzen haben. Aber spannender wäre es, wenn Biologie-, Psychologie- oder Mathematik-Profs kämen, die dann erzählen würden, was aus ihrer Sicht wichtig wäre.
Bereits an Gymnasien wählen immer noch deutlich mehr Knaben als Mädchen das naturwissenschaftliche Profil. Besteht da nicht Handlungsbedarf?
Diese Weichenstellung setzt bereits viel früher an als im Gymnasium, nämlich in der Primarschule oder im Kindergarten. Spannend ist dabei, dass diese ungleiche Verteilung nicht universell ist, sondern in verschiedenen Ländern und Regionen anders aussieht. Gerade in nordischen Ländern und in Asien ist die Geschlechterverteilung diesbezüglich sehr anders. Das ist ein mitteleuropäisches Phänomen. Ich sehe da den Fehler nicht im Gymnasium, sondern in der Gesellschaft. Uni und ETH machen durchaus Werbung für Mädchen in der Wissenschaft. Aber solange Leute das studieren, was sie wollen, sehe ich das nicht als riesiges Problem.
Sind die Geisteswissenschaften zu präsent?
Durch die ganzen Medienkampagnen haben die Naturwissenschaften Zulauf erhalten, während die anderen Fächer weiterhin stark geblieben sind. Es gibt durchaus viele Germanisten und Historiker, aber deren Berufsfeld ist ja auch relativ breit: Sei es bei den Medien oder bei Banken, man kann vielerorts arbeiten. Ich sehe darin aber keinen Grund zur Besorgnis. Die Zusammenarbeit von Natur- und Geisteswissenschaften, das ist eigentlich die grosse Zukunft. Probleme kann man nicht nur im einen oder anderen Bereich lösen, sondern am besten in interdisziplinär zusammengesetzten Forschungs- und Entwicklungsteams. Geisteswissenschaften sind überhaupt nicht überholt und unwichtig, sondern genauso wichtig und werden vielleicht sogar wieder wichtiger in einer total digitalisierten Welt.
Dann sehen Sie das Gymnasium in einem sehr positiven Licht?
Unbedingt. Das Gymnasium im Kanton Zürich und generell in der Schweiz ist ausgezeichnet. Für unsere Schülerinnen und Schüler, für die dieser Lebensabschnitt ein sehr bedeutender ist, haben wir ein super Angebot. Es ist eine gute Mischung aus Anspruchsvollem, aber auch Persönlichkeitsentwickelndem. Das Pflichtprogramm der Gymnasien ist meiner Meinung nach ganzheitlicher als dasjenige der Uni.