Die Schweiz streikt
Vor hundert Jahren streikten Angestellte in der ganzen Schweiz. Mitten in den Unruhen waren auch Studierende.
Die Lebensbedingungen und die materielle Lage breiter Bevölkerungskreise hatten sich seit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs zunehmend verschlechtert. Die andauernde Versorgungskrise und soziale Not führten 1918 landesweit zu Unruhen. Arbeiterschaft und Bürgertum feindeten sich an. Gleichzeitig befürchtete die freisinnige Regierung, dass die revolutionären Bewegungen im Ausland auf die Schweiz überschwappen könnten. Man wollte gar eine Umsturzgefahr in der Arbeiterschaft erkennen, eine Gefährdung für die Eidgenossenschaft. Als der Bundesrat die Erhöhung des Milchpreises verordnete, drohte das Oltener Aktionskomitee als federführende Arbeiterorganisation erstmals mit einem Generalstreik. Die innenpolitischen Spannungen spitzten sich weiter zu: Die Bundesregierung liess zur Wahrung der nationalen Sicherheit im ganzen Land Ordnungstruppen mobilisieren. Versammlungen wurden verboten, Demonstrantinnen und Demonstranten mit Luftschüssen und Säbelhieben zurechtgewiesen. Als Antwort auf diese als Provokation empfundene Machtdemonstration rief das Aktionskomitee unter der Führung von SP-Nationalrat Robert Grimm schliesslich zum Landesstreik auf. Als Streikparole wurde eilends ein Katalog von neun Forderungen formuliert, die sozusagen gerade auf der Hand lagen; darunter Neuwahlen des Nationalrats nach dem Proporzsystem, das Frauenstimmrecht, die Beschränkung der Wochenarbeitszeit sowie eine Alters- und Invalidenversicherung. Am 12. November folgten dem Streikaufruf schweizweit über 250’000 Gleichgesinnte.
Studentische Hilfsaktionen
Dabei nahmen Studierende eine bedeutende Rolle ein: Einige teilten zwar die progressive Haltung der Arbeiterschaft, doch ein Grossteil stärkte der Regierung als «Nationalgesinnte» begeistert den Rücken. Das Rektorat der Universität Zürich hatte durch einen Anschlag am schwarzen Brett die Studierenden aufgefordert, sich von den Demonstrationen fernzuhalten und stattdessen ihre «jugendliche Kraft und Begeisterung in den Dienst des Gesetzes und der Ordnung zu stellen».
So trafen sich beispielsweise neun sogenannte «Vertrauensmänner» aus verschiedenen Fakultäten der Uni und ETH Zürich im Café Elite, um eine Studierendenbewegung zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung ins Leben zu rufen. Die Vertrauensmänner betonten, dass die Mitarbeit der Studierenden basierend auf Freiwilligkeit, politischer Neutralität und Unabhängigkeit von Parteien und studentischen Verbänden erfolge. Jedem wurde die Teilnahme ermöglicht. Mehr als die Hälfte der immatrikulierten Studierenden gesellte sich dazu. Vorlesungen wurden teilweise eingestellt. Für ihr Engagement erhielten sie von bürgerlicher Seite viel Lob, und so liest sich der Bericht über ihre studentische Aktion wie ein patriotisches Epos.
Studierende springen ein
Konkret betätigten sich Medizinstudierende in den Militärspitälern, andere sammelten durch die sogenannte «Liebesgabensammelstelle» Geld für grippekranke Soldaten. Durch den Streik wurde insbesondere die Herausgabe der bürgerlichen Presse unterbrochen, während die Arbeiterinnen und Arbeiter linker Medien regulär arbeiteten oder studentische Hilfskräfte anheuerten.
Als Reaktion wurde mit der «Bürgerlichen Presse» ein improvisiertes Notinformationsorgan geschaffen, das die Studierenden auf der Strasse verkauften. Sie halfen auch bei der Schaffung einer Verbindung zwischen der Stadt und ihrer Umgebung durch einen Automobil- Kurierdienst, der durch den Ausfall des Eisenbahnverkehrs nötig geworden war. Ausserdem leisteten einige Studierende im Post- und Telegraphendienst wertvolle Dienste, und andere beteiligten sich bei der Bürgerwehr, die im Notfall an die Seite der Ordnungstruppen getreten wäre. In Zürich soll die Initiative zur Gründung der Stadtwehr sogar von der Studentenschaft ausgegangen sein. Die Polytechniker der ETH nahmen sich insbesondere der technischen Betriebe an und machten sich beispielsweise im Trambetrieb nützlich.
Der politische Gegenpol
Den «nationalgesinnten» Studierenden stand auch eine, zahlenmässig jedoch weit unterlegene, Opposition gegenüber. Die Zürcher Sektion der Studentenverbindung «Schweizerischer Zofingerverein» (Zofingia) verteilte ein Flugblatt der «unabhängigen Studenten». Darin bekundete sie ihre Solidarität mit der Arbeiterbewegung und grenzte sich von der «oberflächlichen, geistlosen Begeisterung» ihrer Mitstudierenden ab. Die «Zofingia» wollte sich auch jeglicher Militärgewalt widersetzen. Andere stellten sich in die Reihen von Wortführer Robert Grimm und der Sozialdemokratischen Partei. Doch weder die Arbeiterbewegung noch die mitstreikenden Studierenden waren in irgendeiner Weise «gefährliche Bolschewisten», die eine sozialistische Schweiz nach sowjetischem Vorbild etablieren wollten. Den Vorwurf aus bürgerlichen und rechten Kreisen widerlegte schon der Historiker Willi Gautschi in seinem Standardwerk «Der Landesstreik 1918». Denn der Streik war zum grössten Teil improvisiert, die Streikparole ein Katalog von unterschiedlichsten Forderungen, der landesweite Aufruhr eine Folge der durch den Krieg geschaffenen allgemeinen Verhältnisse. Die Streikenden waren nicht bewaffnet und bemühten sich zudem um Verhandlungen mit der Regierung.
Sie wollten nie den Bürgerkrieg, sondern die Solidarität der Bevölkerung und eine Abkehr von einem militärischen und kapitalistischen Regime. Obwohl als Druckmittel genutzt, war der Streik damit schliesslich das letzte Mittel.
Anfang der sozialen Schweiz
Nach drei Tagen musste der Landesstreik als Akt der Vernunft, aus Angst vor einer blutigen Eskalation und einem Bürgerkrieg, abgebrochen werden. Die Forderungen des Oltener Aktionskomitees blieben dabei unerfüllt. Der Landesstreik gilt trotz der Kapitulation als entscheidende Weichenstellung, denn in den folgenden Wochen und Monaten herrschte eine Kultur der Konsensfindung. Der Bundesrat war nun nicht mehr auf Konfrontationskurs, sondern zeigte sich offen für die Anliegen der arbeitenden Bevölkerung. Es kam zu Fortschritten bei den Arbeitsbedingungen, in der Sozialpolitik und der politischen Partizipation. Später bekannte sich auch die SP zum Militär, um die neu aufkommende Gefahr gemeinsam zu bewältigen: die faschistische Partei «Nationale Front». ◊