Rumantsch ist tot – lang lebe Rumantsch
Ab 2018 wird Rätoromanisch voraussichtlich als eigenständiges Studienfach an der Universität Zürich abgeschafft. Doch wie stehen Studierende der UZH zur Diskussion um die vierte Landessprache?
Seraina Montigel studiert im letzten Semester Vergleichende Romanische Sprachwissenschaft, kurz VRS, im Hauptfach und belegte im Rahmen dessen einige Seminare über das Rätoromanische – in Rätoromanisch. Aufgewachsen ist sie mit Surmiran, einem bündnerromanischen Dialekt, der im Oberhalbstein und in Teilen des Albulatales gesprochen wird. In den Seminaren und Vorlesungen sind aber noch viele weitere romanische Sprachvarietäten vertreten. «An der Universität funktioniert die Kommunikation der verschiedenen Sprecher und deren Dialekten sehr gut. Wir hören einander aufmerksam zu und verstehen einander. Keine Varietät wird positiv oder negativ gewertet», sagt sie. Ausserhalb des universitären Alltags sieht die Realität meist etwas anders aus: «In den Köpfen vieler Rätoromanen ist die Idee verhaftet, dass sich Sprecher verschiedener Idiome nicht verstehen können. Zudem ist es so, dass heutzutage praktisch alle Rätoromanen zweisprachig sind. Da wird dann leider oft viel zu schnell auf die deutsche Sprache ausgewichen.» Dabei sinkt die Zahl der Rätoromanisch sprechenden Einheimischen seit Jahren kontinuierlich. Die Eigenheit, nur den lokalen Dialekt zu akzeptieren, ist nicht sonderlich hilfreich um dem entgegenzuwirken.
Versuch, die Sprache zu retten: Rumantsch Grischun
Kann man aber das Aussterben des Rätoromanischen irgendwie aufhalten? Heinrich Schmid entwickelte 1982 eine reine Schriftsprache, das sogenannte Rumantsch Grischun, welches Elemente der drei sprecherreichsten und aktivsten Idiome aus Graubünden verband; dem Unterengadinischen (Vallader), dem Surmeirischen und dem Surselvischen. Die Idee des Unterfangens war vorerst, Rumantsch Grischun nur als Schriftsprache für die bündnerromanische Sprecherschaft einzusetzen und der Distanzkommunikation zu behelfen. «Das ursprüngliche Ziel, eine einfachere schriftliche Verständigung zu gewährleisten, war gut. Eine Sprache für das Fernsehen, die Zeitungen, das Radio, wie auch für alle offiziellen Dokumente, die von allen verstanden wird», so Montigel. Mit der Zeit wurde es aber auch an Schulen als schriftliche Normsprache eingesetzt, eine Entwicklung, die als sehr plötzlich und einengend empfunden wurde. Jede Sprachvarietät hat ihr eigenes Idiom, sprich, normierte Variation mit Rechtschreibung und Grammatik, die an den Schulen unterrichtet wird. «Das Rumantsch Grischun unterscheidet sich teils stark von dem jeweiligen Dialekt. Dass den Leuten plötzlich etwas vorgesetzt wurde, das stark vom eigenen Dialekt abwich, sorgte für viel Widerstand, dass es aber die eigene Unterrichtssprache verdrängen sollte, hat für noch mehr Unwillen gesorgt», sagt sie. Mittlerweile ist das Rumantsch Grischun in vielen Gebieten in den Schulen wieder abgeschafft worden. Des Weiteren gibt es noch das Problem der schrumpfenden Sprecherzahl: «Es wäre besser, man lernte zuerst den eigenen Dialekt, festigte seine Kenntnisse und würde sich später mit Rumantsch Grischun befassen», fügt Montigel an. Ansonsten besteht nämlich die Gefahr, dass sich unerfahrene Sprecher zwischen beiden Varianten verlieren und keine richtig beherrschen. Ob diese in der Lage sind, die Sprache an die nächste Generation weiterzugeben, ist fraglich.
Aussenstehende Interessenten, mageres Angebot
Jana Meier stammt aus der Stadt Luzern und studiert wie Seraina VRS, ist aber nicht mit Rätoromanisch als Muttersprache aufgewachsen und lernt es, wie viele auch, erstmals an der Universität. Zum Angebot der Seminare sagt sie: «Man kann zwei rätoromanische Idiome, Vallader und Sursilvan, während zweier Semester lernen. Das Seminar zu Rumantsch Grischun ist leider nur Muttersprachlern vorbehalten.» Diese kommen mit einer Basis und festigen diese mit Hilfe der Kunstsprache. Schliesslich handelt es sich bei Rumantsch Grischun um keine gesprochene Sprache. Auffallend ist allerdings, dass die Semesteranzahl mit bloss zweien sehr klein bemessen ist. Ein Überblick der Sprache erfolgt, aber eine Vertiefung ist nicht möglich. Didaktisch gäbe es zu bemängeln, dass der Fokus auf das Verständnis und die Grammatik der Sprache gelegt wird, nicht aber auf den aktiven mündlichen Gebrauch. «Rätoromanisch wird für Nicht-Muttersprachler auf eine Art unterrichtet, die es einem nicht ermöglicht, gegen Ende der zwei Semester eine Konversation zu führen». Der sprachwissenschaftliche Aspekt wird als wichtiger erachtet als das Beherrschen der Alltagssprache. Bei Vallader war das besonders auffällig. In meinem aktuellen Sursilvan-Seminar werden endlich auch vermehrt mündliche Übungen und Aufträge verteilt. Mit Sprachkursen der anderen Schweizer Landessprachen ist es aber bei weitem nicht vergleichbar», so Meier. Ist das kleine Angebot also ein Ausdruck mangelnden Interessens? Meier verneint dies: «In den Seminaren befinden sich nicht nur Linguisten, sondern auch Studierende, die aus reinem Interesse an der Sprache dabei sind. Sie sind motiviert, als Schweizer die vierte Landessprache kennenzulernen.» Die Kurse werden nicht vom Sprachenzentrum, sondern von der Universität angeboten, sind aber allen offen.
Zukunftsblick
Für das Rätoromanische sieht es also nicht rosig aus. Montigel spricht klar von einem Sprachtod: «Jeden Tag sterben Sprachen aus. In der Schweiz wird viel Aufwand betrieben, um das Rätoromanische zu fördern oder zumindest zu erhalten. Aber ich denke, früher oder später wird es aussterben. Wobei dies sicher noch eine Weile dauern wird und nicht von heute auf morgen passieren wird.» Deshalb ist es umso tragischer, dass der Versuch, mit Rumantsch Grischun eine weitflächigere Normierung einzuführen, gescheitert ist: Eine Einheitssprache hätte mehr politische Macht und Einfluss bedeutet. Wäre man sensibler mit der Einführung der Schriftsprache umgegangen, sähe die Situation heute vielleicht bedeutend anders aus. Allerdings muss seitens der Rätoromanen ein Umdenken bezüglich des Werts des Spracherhalts stattfinden. «Spricht man mit Muttersprachlern, kriegt man den Eindruck, dass sie es nicht besonders wichtig fänden, ihren zukünftigen Kindern Rumantsch beizubringen. Sie empfinden es als nicht der Mühe wert, denn Deutsch sei in der Arbeitswelt praktischer. Die Elterngeneration beherrscht die Sprache, aber die Studierenden, die junge Generation, bezeichnen sich bereits nicht mehr als Muttersprachler. Es kann doch nicht sein, dass der Wert dieser Sprache von der eigenen Sprecherschaft nicht anerkannt wird», so Meier. Gerade in Zürich, wo die grösste Sprecheranzahl ausserhalb des eigentlichen Sprachgebietes angesiedelt ist, gäbe es für Rätoromanen ein grosses Angebot, um ihr Sprachvermögen zu pflegen und der nächsten Generation weiterzugeben: So öffnete kürzlich eine Kinderkrippe, in der Rumantsch gesprochen wird, an der Primarschule Hirschengraben werden rätoromanische Kurse offeriert und das Angebot des Sprachenzentrums steht allen Studierenden offen. Bleibt zu hoffen, dass in naher Zukunft der Wert der vierten Landessprache nicht an beruflich-wirtschaftlichen Massstäben gemessen wird und das rätoromanische Angebot schrittweise ausgebaut wird.