Die politische Haltung von «Geschichte der Gegenwart» passt vielen nicht. Oliver Camenzind

Profs leisten sich eine eigene Meinung

Die von der Slawistin Sylvia Sasse und dem Historiker Philipp Sarasin mitverlegte Online-Plattform «Geschichte der Gegenwart» steht unter medialem Beschuss.

4. Dezember 2017

Der Historiker Philipp Sarasin ist wütend. Ende Oktober titelte die «SonntagsZeitung»: «Wie die Uni Zürich Politik macht». Für den Geschichtsprofessor ist diese Unterstellung «einfach falsch, bösartig und polemisch». Er beklagt sich: «Das impliziert, dass man als Wissenschaftler keine politische Meinung unabhängig von seinem Arbeitgeber haben und äussern darf.»

Seine politische Meinung äussert Sarasin über die Online-Plattform «Geschichte der Gegenwart», die er zusammen mit anderen Fachpersonen aus den Geisteswissenschaften im Februar 2016 lancierte. Sarasin lehrt seit 17 Jahren am Historischen Seminar der Universität Zürich. Er und die Gründungsmitglieder verlegen «Geschichte der Gegenwart» als Privatpersonen. Darin finden sich viele Texte zu aktuellen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Themen, die aus einer historischen Perspektive beleuchtet werden. Dem selbstzugeschriebenen Untertitel «Beiträge zur öffentlichem Debatte» wird die Online-Plattform gerecht. Brexit, Trump, Populismus und Sexismus: Phänomene und Begriffe werden diskutiert, analysiert, kritisiert und weitergedacht. «Konzeptionell ist ‹Geschichte der Gegenwart› ein politisches Feuilleton», fasst Sarasin zusammen.

«Einfalt und Schmallippigkeit»

Mit dem Vorwurf der «SonntagsZeitung» kann auch Sylvia Sasse, Professorin für slawistische Literaturwissenschaft an der Uni Zürich und Mitherausgeberin der Online-Plattform, nichts anfangen: «Das ist doch bloss Alltagsgeschäft. Es gibt unzählige Professoren, die in ganz unterschiedlichen Medien publizieren.»

Im Zeitungsartikel ist aber immer wieder von «Einfalt und Schmallippigkeit» der Autorinnen und Autoren die Rede. Sarasin: «Klar stehen wir an einem Ort im politischen Spektrum. Aber dieser Ort ist relativ weiträumig definiert.» Schliesslich plädieren Sarasin und Sasse für die Meinungsvielfalt. Doch er befürchtet: «Rechtsextreme, sexistische und rassistische Äusserungen werden normalisiert und wieder in den sagbaren Bereich gerückt.»

Weiter vermutet Sasse, dass Leute, die beispielsweise den Sexismus verurteilen, in den Augen der Konservativen die Meinungsvielfalt gefährden. «Kritiker werden zu Linksextremen. Das ist eine verrückte Verschiebung.»

Unglaublich links

Auch die «Weltwoche» versuchte Anfang November, «Geschichte der Gegenwart» anhand einer Textanalyse zu kritisieren. Doch das rechtskonservative Blatt scheiterte: Die Formulierung Sarasins, die SVP mache «aus dem Tod von Flüchtlingen ein politisches Programm», stempelte die Weltwoche einfach als faktenignorierend und demokratiefeindlich ab. «Die Verkehrung ins Gegenteil ist allgegenwärtig», sagt Sasse: «Wir werden angegriffen, weil wir solche Verkehrungen analysieren und diese benennen.»

Damit nicht genug: Der «Weltwoche» ist auch Franziska Schutzbach von der Uni Basel ein Dorn im Auge. Die Soziologin und Genderforscherin ist Mitherausgeberin von «Geschichte der Gegenwart» und führt daneben einen eigenen, privaten Blog. In einem Eintrag aus dem Mai 2016 sinnierte sie darüber, wie es wäre, wenn man «reaktionären Kräften sämtliche Legitimität» absprechen würde. Für die «Weltwoche» ein klarer Angriff auf die Meinungsfreiheit. Sie griff die «Gesinnungsgenossin» von Sasse und Sarasin gleich selbst an. Das Blatt fragte sich, ob es Dozierenden überhaupt erlaubt ist, sich «derart rabiat» zu äussern.

Verstärkung aus Basel

Schutzbachs Gedankenspiel, das für die «Weltwoche» Anlass genug war, sie als Feindin der Demokratie darzustellen, wäre nicht so in die Öffentlichkeit getragen worden, wenn da nicht die «Basler Zeitung» wäre. Spätestens seitdem die Tageszeitung von der finanzstarken Blocher-Familie gestützt wird, ist auch dort eine rechte Rhetorik auszumachen. Das musste Schutzbach am eigenen Leib erfahren: Eine Woche nach den polemischen Zeilen der «Weltwoche» veröffentlichte die «Basler Zeitung» einen ausführlichen Bericht über ihren Blog-Eintrag. Darin wird versucht, die Soziologin blosszustellen. Das Ganze gipfelte in einer angehängten Umfrage zum Artikel: «Die Gender-Wissenschaftlerin will alle ‹rechtsnationalen Politiker› am liebsten boykottieren. Ist Dozentin Franziska Schutzbach für die Universität Basel noch tragbar?» Nachdem die «SonntagsZeitung» die Universität Zürich anschwärzte, angeblich Politik zu betreiben, wird nun ihr Basler Pendant von der lokalen Tageszeitung verdächtigt, eine scheinbare Feindin der Meinungsfreiheit angestellt zu haben. Die Abstimmung der «BaZ» findet Sasse «absolut manipulativ»: «Das Volk wird aufgrund dieses propagandistischen Artikels aufgehetzt und das Umfrage-Resultat wird dann als demokratisch hervorgebrachte Wahrheit ausgegeben.»

Die rote Linie

«‹Geschichte der Gegenwart› ist in der Schweizer Medienlandschaft angekommen», freut sich Sarasin. Doch sei es unerfreulich, in dieser Art im Fokus zu stehen und «solche Dresche» zu kassieren. Denn der mediale Aufschrei war gross: Sogar die Basler SVP forderte «die Einleitung von Massnahmen» gegen Franziska Schutzbach. Die Partei bezichtigte sie «antidemokratischer Äusserungen».

Für Sarasin ist klar, wann die rote Linie überschritten ist: «Ich bin gerne bereit, mit anderen Leuten über die Flüchtlingspolitik zu diskutieren. Aber man kann nicht darüber diskutieren, ob man Rassist sein darf oder nicht – und zwar aus historischen Gründen.» ◊