Politisches Engagement, aber «Subito!»
Die Zürcher Jugendbewegung der frühen 1980er Jahre war wild, frech und laut, so die gängige Auffassung. In Erinnerung geblieben sind filmische und fotografische Darstellungen von Strassenschlachten zwischen demonstrierenden Jugendlichen und der Polizei sowie provokative Parolen. «Gilgen an den Galgen», hiess es da beispielsweise als Seitenhieb auf den unbeliebten Erziehungsdirektor oder «Freie Sicht aufs Mittelmeer». Zürich (oder «Zureich», wie die Limmatstadt oft genannt wurde) brannte. Dass die Bewegung aber sehr durchmischt war, was ihre Zusammensetzung angeht, und nicht nur aus Krawallanten und Radauschwestern bestand, darf nicht vergessen gehen. Denn viele der politischen Anliegen der damaligen Jungend waren durchaus berechtigt – und fanden letzten Endes deshalb auch Gehör.
Peter Bichsel und Silvan Lerch haben im Limmat Verlag ein Buch mit dem Titel «Autonomie auf A4» publiziert, das die Umtriebe der Zürcher Jugendbewegung anhand von Flugblättern nachzeichnet. Da es sich vorwiegend um nachgedruckte Originaldokumente handelt, wurde auf einordnende und erklärende Texte weitgehend verzichtet. Das kommt einerseits dem Gesamteindruck des Buches zugute, tendieren die Texte in vergleichbaren Publikationen doch allzu oft zur Simplifizierung oder nachgerade zur Mystifizierung historischer Sachverhalte. Andererseits gibt es zu den ebenso schrillen wie witzigen Drucksachen auch nicht viel zu sagen. Mal sind sie handgefertigt und sarkastisch, mal maschinengeschrieben und sachlich. An verschiedenen Stellen im Buch kommen Zeitzeugen zu Wort, die aktiv an der Bewegung teilgenommen haben. Unter anderem findet ein Text von Heinz Nigg, dem Autor von «Wir wollen alles, und zwar Subito», im Buch Platz. So zeigt der Band auf authentische Weise, wie Jugendliche um 1980 ihre Anliegen in Wort und Bild vorbrachten. Zugleich liefert er die relevanten, aber eben nur die relevanten Hintergründe.
Die grosse Leistung der knapp 290 Seiten starken Sammlung von Flugblättern ist indes eine andere. Sie zeigt sich, wenn vor Augen geführt wird, wie sich Zürich um 1980 präsentierte: Alternative Kultur gab es so gut wie keine, dazu fehlten im bürgerlichen Zürich die Freiräume. Andere Perspektiven auf die Welt als jene, die sich im Staatsfernsehen und den etablierten Zeitungen manifestierten, hatten nirgendwo Platz. Und an bezahlbarem Wohnraum herrschte ebenfalls Mangel, obwohl die Bevölkerungszahl der Stadt seit Ende der 1960er Jahre kontinuierlich zurückgegangen war. Schon beim ersten Durchblättern dürfte Lesenden von «Autonomie auf A4» bald vieles sonderbar bekannt vorkommen. Denn immer noch stellt sich angesichts ger grassierenden Gentrifizierung die Frage, wo weniger massentaugliche Kultur gelebt werden soll, auch heute stehen Sinn und Zweck der Staatsmedien zur Debatte, und selbst im 21. Jahrhundert ist kein Mittel gegen überteuerte Mieten erfunden worden.
Die Anliegen sind die gleichen wie ehedem, aber das «Subito!», die Unbedingtheit der Ansprüche, ist auf der Strecke geblieben. Erstaunlich ist vor diesem Hintergrund denn auch weniger, wie die Themen sich wiederholen, als wie rabiat politische Anliegen im Vergleich zu heute vorgetragen und verfolgt wurden. Nicht, dass Gewalt ein legitimes Mittel wäre, um politischen Druck aufzubauen, aber wenn man von der Jugendbewegung der Achtzigerjahre etwas abschauen will, dann das: Ein bisschen mehr «Subito!» einzufordern, kann nicht schaden. Und in «Autonomie auf A4» zu blättern, erst recht nicht. [cam]