Die Stadt - unser Zuhause
Herr Stühlinger, viele Junge ziehen von zu Hause aus, wenn sie ihr Studium beginnen. Ist der Anspruch berechtigt, in derselben Stadt leben zu können, wo man auch arbeitet oder studiert?
Zwei Experten beurteilen die gegenwärtige Lage des Wohnungsmarktes und denken über das Wohnen der Zukunft nach.
Die Entwicklung einer Stadt geht uns alle an. Denn sie ist unser Zuhause. Kein Wunder, dass auch alle eine Meinung haben, wenn es um Vorhaben geht, die die Benutzbarkeit oder das Erscheinungsbild der Stadt verändern. Angesichts dieser Fülle von Bedürfnissen und Meinungen einen einzigen, umsetzbaren Kompromiss auszuarbeiten, dürfte schwer fallen. Mit dieser Aufgabe ist André Odermatt, Vorsteher des Stadtzürcher Hochbaudepartements, betraut. Die Kompromisse der Vergangenheit und Gegenwart untersucht Harald R. Stühlinger, Professor für Architektur- und Baugeschichte.
Bilder: zVg Der Anspruch ist durchaus berechtigt. Das freiwillige Aufgeben der gewohnten Umgebung, das Verlassen der «comfort zone», kann gerade zu Beginn des Studiums in jeder Hinsicht bereichernd sein. Hier spreche ich mich daher besonders für einen Umzug an den Studienort aus. Das Wohnen in einer neuen Um- gebung verändert nicht nur den Blick auf die Welt, sondern auch das «Sich-in-der-Welt-Be nden». Mir ist jedoch bewusst, dass dies nur für einen privile- gierten Teil der Gesellschaft nanziell möglich ist.
Die Alternative zur WG ist für viele, daheim bei den Eltern zu bleiben, schnell zu studieren und nach dem Abschluss möglichst bald einen gut bezahlten Job anzunehmen. Entspricht das dem Geist unserer Leistungsgesellschaft?
Ich denke, dass das mit Bequemlichkeit und teils beschränkten nanziellen Möglichkeiten zu tun hat und nur bedingt etwas mit unserer auf Leistung ausgerichteten Gesellschaft. Das sollte aber nicht nur negativ verstanden werden: Für viele junge Menschen sind das durch Jahre hindurch aufgebaute soziale Netzwerk und die Rolle der Familie nicht nur wichtig, sondern ungemein identitätsfördernd. Diese andernorts zu p egen, kostet viel Kraft.
Die ETH hat auf dem Hönggerberg Wohnungen für Studierende errichtet. Wohnen, Studieren, Arbeiten und Freizeit an einem Ort – ist das die Zukunft, oder was halten Sie davon?
Diese Kombination entspricht den Grundzügen eines auf Leistung ausgerichteten Modells von Studium. Was hier als Funktionsmischung am Campus apostrophiert wird, ist tatsächlich eine Retortensituation, die so in der Stadt – und dieser Campus versteht sich immer mehr als ein Stück «Stadt» – nie vorkommt, aus gutem Grund.
Die studentische WG wird gemeinhin als Übergangslösung begriffen: Man ist jung und muss billig wohnen. Dann wird man «erwachsen»
und kann sich eine eigene Wohnung leisten. Dabei ist die WG eine effiziente Wohnform, die doch fördernswert wäre? Ich halte das Konzept des Mehrgenerationenwohnens für eine sozial durchaus ef ziente Wohnform. Die Fortführung der WG als Wohnform im Erwach- senenalter läuft den detektierbaren Individualisie- rungstendenzen in der Gesellschaft entgegen. Man müsste Konzepte andenken, bei denen WGs nicht als Wohngemeinschaften, sondern eher als Wohnungsgemeinschaften zu denken wären. Also als Baugruppen, bei denen sich unterschiedliche Eigentümer zusammen nden, um einen Wohnhausneubau zu realisieren. Das ist dann interessant, weil es in diesen Baugruppen meist kleine Wohneinheiten gibt, die unter Wert vermietet werden, um nanziell schlechter Gestellten trotzdem gutes Wohnen zu er- möglichen. Sozusagen als Gabe an die Gesellschaft.
Trotz aller Effizienz – unter den Bedingungen des freien Marktes ist sogar die WG teuer. Ein Immobilienbesitzer führte unlängst die hohen Mieten darauf zurück, dass Bauen teurer geworden sei. Ist am Ende die Architektur an der gegenwärtigen Situation auf dem Wohnungs- markt schuld?
Architektur ist per se kein Agens. Ich denke, das ist eher ein Problem der Immobilienbranche als der Architektenschaft. Vielleicht vermietet man eine Wohnung, die als WG vermietet wird, teurer, als wenn man sie als Einfamilienwohnung vermieten würde.
Gemeinschaftliches Wohnen ist zurzeit sehr en vogue, dennoch ist die immerwährende Sehnsucht nach möglichst viel Raum zur Selbstverwirklichung noch lange nicht tot. Wie stellen Sie sich das zukünftige Wohnen vor?
Wohnen hat sich in der heutigen Form vor mehreren Tausend Jahren zu entwickeln begonnen und sich über die letzten Jahrhunderte immer mehr ausdifferenziert. Die Funktion des Wohnens, die Art der Wohnung, die Rituale des Wohnens sind sehr tief in unsere kulturelle DNA eingeschrieben. Betrachtet man die Revolution, die die Protagonisten der klassi- schen Moderne bezüglich des Wohnens postulierten, so trat nur in Teilen ein wirklicher Wandel ein. Wohnen ist und bleibt ein individueller Akt. Ich stelle mir das zukünftige Wohnen – wenn ich das überhaupt generalisierend beantworten möchte – so vor, dass jede und jeder ihren und seinen privaten Freiraum zugestanden bekommt, um sich als Mensch, als Person und als Mitglied der Gesellschaft frei und kreativ entwickeln und verwirklichen zu können.
Herr Odermatt, die Stadt Zürich setze sich für «Durchmischung» und «sozialpolitische Stabilität» ein, heisst es im «Programm Wohnen» von 2017. Gleichzeitig lässt man eine Europaallee zu, vom «urbanen Albtraum» Zürich-West nicht zu reden. Das widerspricht sich doch?
Genauso wie der Einsatz für eine gute Durchmi- schung und die sozialpolitische Stabilität ist im Pro- gramm Wohnen auch das Ziel formuliert, Zürich als attraktive Wohnstadt für alle Bevölkerungsschichten und Altersgruppen zu erhalten. Dazu leisten sowohl die Europaallee als auch Zürich-West ihren Beitrag. Darüber hinaus tragen beide Gebiete natürlich we- sentlich zur Attraktivität Zürichs als Arbeitsplatz- standort bei, auch das ist Teil einer vielfältigen, durchmischten Stadt. Es ist aber in der Tat so, dass es die Stadt damals versäumt hat, einen gewissen Anteil gemeinnütziger Wohnungen von den Inves- toren einzufordern. Wir haben daraus gelernt und handhaben das heute viel besser, die Projekte an der Zollstrasse und auf anderen SBB-Arealen sind gute Beispiele dafür.
Die Stadt ist bemüht, gerechten Wohnungsbau zu fördern. Dennoch hat eine Erhebung des «Tages-Anzeigers» gezeigt, dass die Mietpreise in der Stadt Zürich zwischen 2000 und 2015 um 60% gestiegen sind. Eine 4-Zimmer-Wohnung kostet demnach im Durchschnitt über 2700 Franken. Wo sollen Menschen mit tiefem Einkommen, zum Beispiel Handwerkerinnen und Arbeiter oder Studierende, künftig wohnen?
Der neue wohnpolitische Grundsatzartikel in der Zürcher Gemeindeordnung wurde 2011 von der Stimmbevölkerung mit deutlicher Mehrheit an- genommen. Bis ins Jahr 2050 soll gemäss diesem Artikel der Anteil gemeinnütziger Wohnungen an den Mietwohnungen in der Stadt einen Drittel be- tragen. Das ist beileibe kein Spaziergang, der Markt ist umkämpft und der Druck hoch. Wir sind aber mit bereits knapp 30 % im weiteren Sinne gemein- nützigen Wohnungen auf einem guten Weg, auch in Zukunft erschwinglichen Wohnraum für alle Ein- kommensschichten zu sichern. Nicht zuletzt haben die deutlich günstigeren Mieten der gemeinnützigen Wohnungen auch eine mietzinsdämpfende Wirkung auf den renditeorientierten Wohnungsmarkt. Ein weiterer Grund, warum ich mich als SP-Stadtrat dezi- diert für mehr gemeinnützigen Wohnraum einsetze.
Drei Viertel der gemeinnützigen Wohnungen befinden sich im Besitz von Genossenschaften – also von Privaten. Zwar arbeitet die Stadt eng mit den Genossenschaften zusammen. Die Frage aber bleibt: Lagert die Stadt damit nicht ihre Verantwortung aus, günstigen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, bzw. wäre es nicht nachhaltiger, die Stadt würde vermehrt selber bauen?
Die Stadt fördert seit über 100 Jahren den gemeinnützigen Wohnungsbau – gegenwärtig plant und baut sie selber so viele Wohnungen wie schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Wir nehmen unsere politische Verantwor- tung also sehr wohl wahr. Die besondere Berücksichtigung der Genossenschaften hat dabei eine lange Tradition und ich kann sie mit gutem Gewissen als Erfolgsmodell bezeichnen. Beide, die Stadt wie auch die Genossenschaften, sind dem Prinzip der Kostenmiete verpflichtet. Das heisst, dass die Mieteinnahmen nur die anfallenden Kosten inkl. Rückstellungen decken und keine Rendite abwerfen dürfen. Über diese Gemeinsamkeit hinaus leisten sie aber ihren jeweils ganz spezi schen Beitrag zum Erhalt und zum Ausbau des Anteils an gemeinnützigem Wohnraum und zur sozialen Durchmischung. Daraus entsteht ein Mix, der in seiner Vielfalt sehr nachhaltig ist.
Schon Max Frisch hat festgehalten, welches Potenzial eine Gemeinschaft aus der Hand gibt, indem sie ihren Grund und Boden verkauft. Irgendwo muss man ja schliesslich wohnen. Ist es daher nicht an sich stossend, dass Unternehmen und Private sich an einem Grundbedürfnis anderer bereichern?
Das sind wichtige und sehr grundsätzliche Überle- gungen und es gilt zu tun, was in unserem Rechts- system dahingehend möglich ist. Mit ihrer aktiven Bodenpolitik betreibt die Stadt einen sorgfältigen, vorausschauenden Umgang mit dem kostbaren Gut Boden. Die Abgabe von Land erfolgt grundsätzlich immer im Baurecht und an gemeinnützige Bauträgerschaften. Zudem erwirbt die Stadt zum Ausbau des gemeinnützigen Anteils Wohnungen auch Land und Liegenschaften von Privaten – ein prominentes Beispiel ist das Koch-Areal. Mit diesen Massnahmen wird der städtische Grund und Boden nachhaltig der Spekulation entzogen.
Von Mitte der 1960er bis in die späten 1980er Jahre nahm die Stadtbevölkerung kontinuierlich ab. Dann blieb sie einigermassen konstant, um zu Beginn des neuen Jahrtausends wieder zuzunehmen. Wie sehen Sie die Stadt Zürich in der Zukunft – als unbezahlbare Grossstadt im Stile Londons, oder halten Sie eine Trendwende in der Stadtentwicklung für möglich?
Die Stadt wird weiter wachsen und der Druck auf den Wohnungsmarkt wird in absehbarer Zeit nicht abnehmen. Um einer Verdrängung und Entmi- schung entgegenzuwirken, muss die Stadt über die genannten Massnahmen hinaus auch den Dialog und die Kooperation mit privaten Akteurinnen und Akteuren intensivieren und zudem wirkungsvolle gesetzliche Grundlagen entwickeln, um bei Um- oder Aufzonungen bestimmte Mindestanteile an preisgünstigem Wohnraum einfordern zu können. Von Verhältnissen wie in London – dort nahm die Wohnungsmisere in den 1980er Jahren mit den neoliberalen Privatisierungsmassnahmen Margaret Thatchers ihren Anfang – sind wir zum Glück weit entfernt. Im Gegenteil: Mit dem Ausbau des Anteils gemeinnütziger Wohnungen tragen wir nachhaltig zur hohen Attraktivität und Lebensqualität unserer Stadt bei – davon bin ich überzeugt, und dafür setze ich mich ein. ◊