Klassenkampf im Livestream
Vor hunderfünfzig Jahren schrieb Marx sein Manifest. Seine studentische Gefolgschaft geht mit der Zeit.
Auf dem Büchertisch sind die Werke von Marx, Engels, Luxemburg und Konsorten aufgelegt, draussen auf dem Fenstersims ist Bier kühlgestellt, und vorne am Tisch des Referenten hängt das Banner der Marxistischen Studierenden Zürich (MSZ). Der Seminarraum ganz oben im Hauptgebäude der Universität füllt sich langsam. Rund 20 Personen haben sich eingefunden, um das Referat «Chinas langer roter Marsch» des marxistischen Studierendenvereins zu hören.
Doch bevor die Veranstaltung beginnt, muss das Stativ für den Livestream aufgebaut werden. Die marxistischen Studierenden übertragen ihre Referate direkt auf Facebook. Wer sich die MSZ also als eine Gruppe weltfremder Politnostalgiker und -nostalgikerinnen vorstellt, liegt falsch. «Es nützt uns nicht viel, über utopische Vorstellungen von Kommunismus zu sprechen. Wir müssen uns der Widersprüche in unserer heutigen Gesellschaft bewusst sein und versuchen, die Probleme zu lösen», meint Flurin Andry, der seit diesem Jahr Mitglied bei den MSZ ist.
Marx in Katalonien
Auch die demokratische Selbstbestimmung sei für Marxisten und Marxistinnen enorm wichtig. Nach Marx sei der Kommunismus der Endzustand, eine Utopie, zuerst müsse der Sozialismus erreicht werden, erklärt Samuel Haffner, ein Mitbegründer der MSZ. Deshalb sind auch nahezu alle Mitglieder der Marxistischen Studierenden ebenfalls bei der JUSO aktiv. Haffner bezeichnet die JUSO als die progressivste linke Kraft in der Schweiz. «Man kann nicht wirklich über den Marxismus diskutieren, wenn man politisch nicht aktiv ist», meint Haffner.
Die JUSO hat in den marxistischen Augen aber ein grosses Manko: In deren Veranstaltungen gehe es schnell ums Tagesgeschäft, und es werde zu wenig diskutiert. Gemeinsame Bildung ist nämlich das wichtigste Credo der MSZ. Deshalb treten keine Fachpersonen auf.
Der gut 40 Minuten lange Vortrag, gespickt mit kommunistischem Vokabular, gibt einen überraschend sachlichen Abriss zur chinesischen Geschichte, der sogar eine anwesende Sinologin beeindruckt. Bemerkungen wie jene, dass China international Verrat begangen habe, um sich bei den Kapitalisten einzuschmeicheln, fehlen aber doch nicht. «Wir, welche das Privileg haben, uns mit Büchern auseinanderzusetzen, haben die Aufgabe, die theoretischen Auseinandersetzungen wieder in die Bewegung und zu den Menschen auf der Strasse zu tragen», erklärt Haffner, «deshalb sehen wir die MSZ wirklich als Plattform für Selbstbildung und Diskussion».
Das aktuelle Geschehen in Katalonien und Griechenland und die Revolutionen in den arabischen Staaten beweisen in Haf-
fners Augen, dass sich die Menschen nach einem Wandel sehnen und ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen wollen.
International vernetzt
An weiteren Schweizer Unis gibt es Schwesterorganisationen der MSZ, welche alle unter dem Dachverband «Der Funke» vereint sind, der monatlich eine gleichnamige Zeitung herausgibt. Dieser ist eng mit der JUSO verknüpft und gehört der «Internationalen Marxistischen Tendenz» an. Weil der Marxismus sich als zwangsläufig international versteht, sind deren Mitglieder gut vernetzt und besuchen z.B. «Schools» anderer marxistischer Studierendenvereinigungen in Europa.
Zum Schluss gibt es Bier, «damit die inhaltliche Diskussion noch weitergeht», so Haffner. ◊