Was den Irchel im Innersten zusammenhält
Der gesamte Campus Irchel liegt lahm. Die Studierenden strömen zu Tausenden aus den Hörsälen. Ein Rundgang mit dem Mann, der das verhindert.
Als Erstes meldet sich das Tierspital: Die Operationssäle werden zu warm! Dann die Informatik, sie warnt, dass die Server zu heiss werden. Aus der Mensa kommt die Nachricht, das Essen taue langsam auf-Gemüse, Fleisch, Gebäck, alles droht ungeniessbar zu werden.
So ungefähr würde es sich abspielen, wenn alle neun Maschinen, die hier auf dem Irchel hinter der riesigen Glasfassade brummen, ausfielen. Wir befinden uns in der Tiefgarage, dicke silberne Rohre ziehen sich kreuz und quer durch den Raum hinter der Glaswand. Den Durchblick über diese auf den ersten Blick unüberschaubare Installation hat André Walder. Der gelernte Kältemonteur arbeitet seit 18 Jahren hier und ist für die Überwachung und Kontrolle der Kühlung und Lüftung auf dem Campus zuständig. Er ist einer von vielen, welche die Studierenden nur selten antreffen. Und doch hängt ihr geregelter Alltag von ihm ab. Er wird mich herumführen und mir zeigen, was den Irchel im Innersten zusammenhält.
«Drinnen wird es etwas laut», sagt er, und wir betreten den Raum. Insgesamt neun grosse Kühlmaschinen stehen hier. Sie sind gewissermassen das Herz des Irchels. Ihre Aufgabe ist es, ständig 8 Grad kaltes Wasser zu produzieren, welches nachher in den Gebäuden zirkuliert. Im Winter laufen nur zwei davon, während im Sommer sechs nötig sind, um die Gebäude kühl halten zu können. Im Innern der Maschinen befindet sich Ammoniak. Das giftige, stark riechende Gas kann gefährlich sein. Messpunkte an jeder Maschine kontrollieren den Ammoniakgehalt im Wasser und in der Luft. Eine rote Leuchtanzeige ausserhalb des Raumes gibt den Wert an, im Moment steht da «0». Gäbe es ein Leck, wüsste man so, wie lange man sich in dem Raum aufhalten dürfte, bevor Erstickungsgefahr droht. «Bei einem extrem hohen Wert dürfte ich selbst mit einer Schutzmaske nur einige Minuten im Raum bleiben», erklärt Walder. Kein Wunder also, muss er rund um die Uhr erreichbar sein. Auch von Zuhause aus kann Walder per VPN die Werte der Kühlmaschinen kontrollieren.
Wir folgen den silbernen Rohren, die von den Kühlmaschinen wegführen, in den anliegenden Gang. Hier verzweigen sich die Röhren und biegen links und rechts in den langen Korridor ab. «Es gibt zwei Kreisläufe. Das Wasser wird durch die Gebäude geführt und gelangt schliesslich aufgewärmt wieder zurück zur Wärmerückgewinnung», erklärt Walder. Ein bisschen wie bei einem Herzen.
Arktische Kälte
Durch den langen, fensterlosen Gang biegen wir zweimal ab, und schon bin ich völlig orientierungslos. Wir gelangen in die Lagerräume der Mensa. Auf grossen Tabletts liegen Backwaren bereit für den Ofen. Durch eine dick isolierte Tür betreten wir den ersten Kühlraum, es herrschen +3 Grad. Eine zweite Tür gegenüber öffnet sich, und ein Mann in einer dicken Winterjacke tritt heraus. Wir treten ein in den «Minus-Zwanziger». Es wird schnell unbehaglich, als der Mann mit der Winterjacke die Tür hinter uns verschliesst. Der Atem steht uns vor dem Gesicht, alle Kisten und Regale sind von Frost überzogen. «Kürzlich stieg die Temperatur hier an. Eine Fehlermeldung gab an, dass etwas mit dem Kühlaggregat nicht stimme», berichtet Walder. Draussen steht vor besagtem Kühlaggregat ein Techniker und repariert es gerade. Der Fehler sei bereits gefunden. Diese Kühlaggregate werden mit 8 Grad kaltem Wasser, welches durch die Rohre dorthin gelangt, gekühlt. Die Maschinen, die kein Ammoniak enthalten, sondern herkömmliches Kühlmittel, sind zuständig für die Kühlraume mit +3 und die Tiefkühlräume mit -20 Grad.
Walder an einem der Kontrollkästen.
Kühlschrank gefällig?
Über eine Treppe gelangen wir wieder in die unterirdischen Stollen. Hier steht ein Arsenal von verschiedenen Kühlschränken bereit. Solche werden auf dem Campus Irchel vor allem in der Forschung verwendet. Chemikalien und Zellkulturen müssen für Experimente konstant und zuverlässig abgekühlt werden. Wenn irgendwo ein Kühlschrank ausfällt, bringt man von hier einen Ersatz. Die Ersatzschränke sind bereits abgekühlt, denn einen der grossen «Minus-Achtziger» abzukühlen, dauert zwölf Stunden. «In der Uni gibt es rund 180 Minus-Achtziger und dazu eine unzählbare Menge gewöhnlicher Kühlschränke», so Walder. Umso beeindruckender, wenn man bedenkt, dass ein einziger dieser Minus-Achtziger 20’000 Franken kostet.
Nebst den Ersatzkühlschränken gibt es in dem Raum auch unzählige Ersatzteile und nicht gebrauchte oder defekte Apparate. Diese werden in der Werkstatt einige Türen weiter von André Walder wieder auf Vordermann gebracht. Hier gibt es zur Abwechslung wieder etwas Tageslicht.
Gleich gegenüber liegt ein fensterloser Hörsaal. Die Luft ist trotzdem frisch, denn sie strömt aus den Gittern vorne an den Pulten. Über die Schlitze an der Decke wird sie wieder abgesaugt und durch Rohre oben aus dem Gebäude geblasen. Wir laufen zu einem der Lüftungsräume unterhalb der Hörsäle. Hier wird die frische Luft, welche draussen angesaugt wird, mit Hilfe des 8-grädigen Wassers abgekühlt und in alle Zimmer, Gänge und Säle des Gebäudes geblasen. An einer Reihe von orangen Schränken sind die Namen der Hörsäle angegeben. Würde man den darunterliegenden Schalter umlegen, würde die Luft oben im Hörsaal schnell dick.
Rohre transportieren kaltes Wasser über den gesamten Campus.
Das Internet der Uni
Einer dieser Lüftungsräume ist besonders wichtig. Er sorgt im Serverraum der Informatik für die richtige Betriebstemperatur und Feuchtigkeit. Diesen sollen wir nun betreten. Hier ist höchste Sicherheit gefragt. Die sogenannte «Vereinzelung» besteht aus zwei Türen und stellt sicher, dass nicht zwei Leute gleichzeitig mit nur einer Schlüsselkarte herein gelangen. Man öffnet die erste Tür und betritt den kleinen Zwischenraum. Ist die Tür hinter einem geschlossen, heisst es Bauch einziehen und stramm stehen, denn erst wenn überprüft wurde, dass man alleine im Zwischenraum steht, öffnet sich die zweite Tür. Ein Informatiker läuft uns entgegen und ist sichtlich erfreut über den Besuch. Ein Dutzend Reihen Schränke, überzogen von bunten Kabelsträngen und blinkenden Lichtlein, steht hier. Trotzdem wirkt der grosse Raum relativ leer. Der Informatiker öffnet eine Bodenplatte. Unter dem Boden liegt im Abstand von einem Meter ein zweiter Boden. Durch den Hohlraum bläst uns kühle Luft entgegen. Sie ist unabdingbar, um die Server auf Betriebstemperatur zu halten. In den Platten vor den Serverschränken befinden sich überall kleine Löcher, durch die sie austreten kann. Letzte Woche habe man ein «Sauna-Szenario» gehabt, meint der Informatiker scherzhaft. Die Temperatur stieg plötzlich, weil die Lüftung ausgefallen war. Wenn das passiert, würde es ungefähr 20 Minuten dauern, bis der Raum überhitzt, dannwürden die Server und das Internet ausfallen und die Uni wäre quasi blind. Er zeigt auf einen der vielen Schränke in der Grösse eines Kleiderschranks. Aus diesem wachsen viele dünne gelbe Kabel, werden zu Bündeln zusammengefasst und verschwinden andernorts wieder. «Das ist das Internet des Irchels» sagt er schmunzelnd. Ich hatte es mir irgendwie grösser vorgestellt. Durch die Vereinzelung gelangen wir wieder nach draussen.
Der heisse Stuhl
Der Erste, der so einen Fehler bemerkt, ist derjenige im Servicecenter. Dieser Bürostuhl wird nie kalt. Im Schichtdienst sitzt hier zu jeder Uhrzeit eine Person, die wachsam die zahlreichen Bildschirme beobachtet, die sie umgeben. Hier laufen sozusagen alle Kabel zusammen. Fast im Sekundentakt kommen Fehlermeldungen herein. Im ganzen Campus gibt es an die 80’000 Datenpunkte, die ständig alle Werte kontrollieren und Alarm schlagen, sollte etwas nicht stimmen. Oft ist es nichts Gravierendes, manchmal nur ein Fehlsignal. Doch im Ernstfall muss sofort gehandelt werden. Es gilt also, die wichtigen von den weniger wichtigen Meldungen zu unterscheiden und dann die entsprechenden Aufträge an Elektriker, Lüftungstechniker, Sanitär und Kühltechniker wie André Walder weiterzuleiten, um die Probleme zu beheben.
Die Aufträge erhält Walder an den Computer in seinem Büro, welches wir nach einigen Kurven, Treppen und Türen als Nächstes betreten. Dort sitzen seine zwei Teamkollegen, ein Elektriker und ein Sanitär. Ihre Pulte haben sie im Kreis aufgestellt, sodass in der Mitte eine Art kleine Arena entsteht. Auf dem Irchel gibt es insgesamt vier solcher Dreierteams, die jeweils für einen Sektor der Gebäude zuständig sind. Über geheime Wege gelangen wir wieder zurück zum Ausgangspunkt, den Kühlmaschinen, wo ich Walder verabschiede. Die Maschinen brummen hinter der gläsernen Wand noch immer friedlich vor sich hin. Zum Glück! ◊