Hohe Qualität in der Medizin – auch ohne Numerus clausus?

Doktor durchgefallen

Viele scheitern am Numerus clausus. Gleichzeitig gibt es in der Medizin zu wenig Fachpersonal. Ist der Eignungstest der richtige Weg?

21. September 2017

«Ich war danach total aufgelöst», sagt Lea (21) genervt. Sie stützt ihre Ellbogen auf die Tischkante, sodass Kaffee und Kuchen leicht wackeln. Die junge Frau steht nun vor einer einschneidenden Neuausrichtung: Sie hat den Numerus clausus (NC), den Zulassungstest für das Medizinstudium, zum dritten Mal nicht geschafft.

Der Numerus clausus selektioniert jene, die am besten abgeschnitten haben. 2017 haben sich erstmals über 4’000 Interessierte für den NC angemeldet – das entspricht einer 412-prozentigen Überlastung der schweizweiten Kapazität. Gleichzeitig werden im Gesundheitssystem ausländische Fachkräfte rekrutiert. Schliesslich haben 3’186 den Test im Juli absolviert, wovon sich rund ein Drittel einen der 1’091 angebotenen Studienplätze ergatterte. Eine Erfolgsquote aus der Hölle.

Lea meint dazu: «Der Numerus clausus ist nicht fair. Es kann nicht sein, dass ein Tag über deine Lebenssituation entscheidet. Sogar in den Lehrbüchern steht, dass der Test zumindest zu einem grossen Teil Glückssache ist.» Sie ist jetzt nicht mehr aspirierende Chirurgin, sondern bald angehende Politikwissenschaftlerin.

Räumliches Vorstellungsvermögen

In diesem Jahr kostete der Test 250 Franken. Peter (25), Medizinstudent im Master, weiss: «2012 waren es auch so viel.» Eine Investition, die sich nur auszahlt, wenn man den Numerus clausus erfolgreich abschliesst.

Der Eignungstest ist nicht unlösbar. Man kann sich auf ihn vorbereiten: «Mit der Anmeldung erhält man ein sogenanntes Testheft, in dem alle zehn Unterkategorien des NC erklärt werden und mit Beispielaufgaben versehen sind», so Peter. Ausserdem bekommt man zwei offizielle Bücher mit Originalversionen des Tests im Handel. Zur weiteren Vorbereitung existieren Übungsprüfungen, die von Kantonsschulen organisiert werden, und etliche kostenpflichtige Aufgabenhefte von privaten Anbietern.

Im Numerus clausus wird viel Konzentration und räumliches Vorstellungsvermögen verlangt: Das Spektrum reicht von Schlauchfiguren, die erkannt werden müssen, über das Merken von Fakten zu Patienten bis hin zu Kopfrechnen und Textverständnis. Dazu betont Lea: «Der Test ist so aufgebaut, dass man ihn nicht fertig machen kann. Die Grundidee ist, dass man sich eigentlich nicht vorbereiten sollte. So steht es zumindest im Lehrbuch. Der Numerus soll ja Fähigkeiten testen, die man nicht antrainieren soll.»

Trotzdem herrscht grosser Druck: Da es zu wenig Ausbildungsplätze gibt, muss selektioniert werden. In Zeiten der gesellschaftlichen Überalterung, des chronischen Ärztemangels und eines fast kollabierenden Gesundheitssystems muss aber die Frage gestellt werden, ob eine Zulassungsbeschränkung wie der Numerus clausus noch sinnvoll ist.

Von weissen Kitteln und Alternativen

Humanmedizin ist zweifelsohne ein wichtiges, aber teures Studium. Die angehenden Ärztinnen und Ärzte besuchen Vorlesungen und Seminare, arbeiten mit weissem Kittel und Mundschutz im Labor und hantieren mit Chemikalien und anderen Substanzen. Klar, dass die schweizerischen Hochschulen nicht einfach so genügend Plätze anbieten können, ohne dass es das ohnehin knappe Budget sprengt.

Aber sind Denkaufgaben und das Merken von Figuren relevant für den beruflichen Alltag im Spital? «Ja», sagt Peter, «der Numerus clausus prüft Skills, die für das Bestehen des Studiums, aber auch für den Beruf auf jeden Fall wichtig sind.» Es gebe aber auch Bestrebungen, das ganze Verfahren möglicherweise gerechter zu gestalten, meint er weiter. «Mit vorangehenden Einzelgesprächen sowie psychologischen und manuellen Tests würden aber die Kosten steigen und die Objektivität teils verloren gehen», führt Peter aus. Er behauptet aber: «Der Matura-Notenschnitt erweist sich für mich als beste Alternative: Damit haben die Anwärterinnen und Anwärter bereits Lern- und Durchhaltevermögen an den Tag gelegt. Ausserdem ist es objektiv, billig und fair. Hingegen müssten die Maturanden schon mit 16 Jahren anfangen, Zeit für den Medizinerwunsch aufzuwenden.»

Für Lea muss die Extremsituation, in die die Teilnehmenden versetzt werden, auch nicht sein. «Ich hatte dieses Jahr echt das Gefühl, dass ich es schaffen kann», erzählt sie. Tatsächlich gibt es genügend mögliche Alternativen zum Numerus clausus: In Genf, Lausanne und Neuenburg existiert keine Zulassungsbeschränkung. Dafür ist der Konkurrenzdruck umso grösser, denn selektioniert wird mit den Prüfungen nach dem ersten Jahr. «Aber auch eine Art Vorkurs mit themenbezogenen Vorlesungen und praktischen Übungen wäre denkbar. So können die Studierenden selber entscheiden, ob Medizin das Richtige für sie ist», meint Lea.

Die Politik ist sich uneins

Dass der Numerus clausus keineswegs unumstritten ist, zeigen Beiträge und laufende Debatten in der Politik und in den Medien. Der FDP-Politiker Ignazio Cassis plädierte 2015 in einem NZZ-Gastkommentar für eine Abschaffung des Eignungstests. Er wiederholte zwar, dass alles «aus bürgerlicher Sicht» gesehen werden müsse und argumentierte mit den «Bedürfnissen des Gesundheitsmarktes», doch sein Ansatz war richtig: Das Testverfahren sei nicht mehr zeitgemäss, weil das Gesundheitssystem reformiert werden müsse. Und es dazu mehr medizinisches Fachpersonal brauche.

Auch im Parlament wird über den Numerus clausus gestritten. Erst im Juni 2017 stimmte der Nationalrat einer Motion von Ruth Humbel (CVP/AG) zu, die vorsieht, den NC durch ein Praktikum zu ersetzen. Wenn der Ständerat auch zustimmt, muss der Bundesrat zusammen mit den Kantonen Alternativen zum Eignungstest fürs Medizinstudium prüfen. Die Schweizerische Hochschulkonferenz gibt sich indessen alles andere als innovationsfreudig. Der Hochschulrat teilte mit, dass «das Selektionsverfahren für das Medizinstudium nach 2019 in seiner heutigen Form weiterzuführen» sei.

Was bleibt, sind enttäuschte Gesichter und ein Mangel an medizinischem Personal, der sich auch in naher Zukunft nicht verringert. Dafür müssen sich auch die nächsten Generationen von potentiellen Chirurginnen und Chirurgen mit dem Eignungstest abfinden, den niemanden zufriedenzustellen scheint. So bestätigt sich Peters Fazit: «Der Numerus clausus ist das schlechteste System mit Ausnahme von allen anderen.» ◊