Exzentrik aus der Provinz
Dieses Jahr wäre der Schriftsteller Gerhard Meier hundertjährig geworden. Die Erinnerung an ihn hat jetzt ein bisschen Anschub nötig. Das hat auch mit seinem Stil zu tun.
Im «Diskurs in der Enge», seinem legendären Essay von 1970, spannte Paul Nizon den Antagonismus zwischen «Welt» und «Provinz» auf. Nur in der grossen Welt, vorzugsweise in der Weltstadt, wo ein «Schicksalsklima» herrsche, könne bedeutende Kunst entstehen, weshalb die Schweiz nie grosse Kunst hervorgebracht habe. Der Schweiz sei das «Grossstadtphänomen fremd geblieben». Deshalb sei «der Schweizer naturgemäss Lokalkünstler», lautet die zugespitzte Formulierung in Nizons Aufsatz. Was Nizon allerdings ausser Acht lässt, ist, dass literarischer Regionalismus nicht zwingend mit biederer Heimatliteratur zusammenfallen muss und dass auch die Provinz mit durchaus interessanten literarischen Konzepten thematisiert werden kann.
Nicht nur Biederkeit
In ähnlichem Mass wie der Solothurner Otto F. Walter erbrachte der Berner Gerhard Meier den Beweis dafür, dass das Mittelland nicht nur einfältige Ländlichkeitsverherrlichung hervorbringen kann. Ein Schriftsteller namens K., «des Provinzialismus bezichtigt», erklärt in Gerhard Meiers Roman «Der Schnurgerade Kanal»: «Provinz bedeutet häufig das Gegenteil von Zentrum, in kulturellen, politischen, wirtschaftlichen Bereichen». Und ferner: «Zentrum bedeutet in geometrischer Hinsicht Mittelpunkt, eine punktkleine Region also». Dass Meier selbst der Figur des Schriftstellers K. zugrundeliegen könnte, liegt nahe, allzu leicht wären Argumente zu finden, auch ihn des Provinzialismus zu «bezichtigen». Das fiktive Dorf Amrain und die Lebensumstände, die es stiftet, stehen im Vordergrund der meisten Prosastücke des Berners, der selbst sein ganzes Leben in demselben Dorf gelebt hat.
Doch die Provinz hat, wenn Meier sie als «Gegenteil von Zentrum» versteht, auch exzentrischen Charakter. Und das ist die Qualität von Meiers Texten, wie «Der Schnurgerade Kanal» exemplarisch vor Augen führt. Wie in anderen Texten von Meier steht auch hier die Erinnerung im Vordergrund. Aber sie tritt weniger als Erforschung einer einmal gewesenen Gegenwart (wie bei Proust) in Erscheinung als als freie Assoziation einzelner Bruchstücke. Daher ist auch Meiers Erzählweise längst nicht so geradlinig wie der schnurgerade Kanal, der immer wieder als Sinnbild für eine zweigeteilte Welt ins Spiel gebracht wird. In einem fort vermischen sich tatsächliche und erinnerte Gegenwart, geraten Vorgestelltes und Wirkliches durcheinander. Vieles bleibt angedeutet oder gänzlich im Dunkeln, wenn der Architekt Isidor A. Passagen seines Lebens aufzeichnet und diese tagebuchartigen Notizen seiner einstigen Geliebten, Dr. Helene W, widmet. Die erzählten Passagen sind kaum in einen übergeordneten Zusammenhang zu bringen und verweben sich zu einem organischen Ganzen, anstatt sich in eine chronologische Abfolge einzuordnen. So nehmen A.s Texte beispielsweise schon früh vorweg, wie sie selbst von Dr. Helene W. gelesen werden, um dann sogleich wieder in die Gegenwart des Erzählers zurückzukehren und von dort aus wieder eine neue Richtung einzuschlagen. Der schnurgerade Kanal als exakte Grenze zwischen zwei Ufern, zwischen einem Früher und Heute, einem Innen und Aussen, bleibt letztlich also eine Illusion, zu sehr sind die Geschichten ineinander verstrickt.
Die Erinnerung braucht Anschub
Mit seiner exzentrischen Prosa hebt sich Gerhard Meier deutlich von dem ab, was Paul Nizon in seinem flammenden Aufsatz so verteufelt hat. Wenn Gerhard Meier als wichtige Figur der Schweizer Literaturgeschichte eingehen wird, dann deshalb, weil er mitgeholfen hat, das Ländliche literarisch fruchtbar zu machen. Aber vielleicht ist seine Eigenwilligkeit auch der Grund, warum die Erinnerung an den Schriftsteller jetzt neuen Anschub nötig hat: Dieses Jahr wäre Meier hundertjährig geworden. Aus diesem Anlass legt der Zytglogge Verlag zwei Bände aus dem Gesamtwerk neu auf: «Der Schnurgerade Kanal» und «Ob die Granatbäume blühen».