Chiara Meroni

Silbe für Silbe, Wort für Wort

Benjamin Lemcke stottert. Er hat es in seinem Studium nie als Belastung empfunden. Die grösste Beeinträchtigung erfährt er in Alltagssituationen.

23. Mai 2017

Manchmal will es einfach nicht. Manchmal will der Satz nicht zum Ende, das Wort nicht über die Lippen kommen. Jede Silbe wird zur Tortur. Und manchmal geht dann gar nichts mehr und die Silben werden zum Strom, gegen dessen Widerstand fast nicht anzukommen ist. Die Augenlider beginnen zu flackern und die Hände zu zittern. Fast könnte man den Eindruck bekommen, es sei eine körperliche Anstrengung nötig, um die Silbe doch noch auszusprechen, das Wort doch noch zu formen. «Blockaden» nennt das Benjamin Lemcke, wenn er an den Punkt kommt, wo er mit dem Sprechen nicht mehr weiterkommt. Sehr oft hilft dann nur noch eines: Abbrechen. Innehalten. Tief durchatmen. Neu ansetzen.

Mündliches Studium

Benjamin stottert. Seit er sprechen kann, hat er Schwierigkeiten, sich flüssig auszudrücken. Zwar hat er in jahrelangen Logopädie-Kursen gelernt, seinen Sprachfehler zu unterdrücken. Ganz wegbekommen hat er ihn aber nie. «Wenn ich langsam spreche, dann geht es meistens einfacher. Mein Problem ist, dass ich eine relativ hektische Person bin und es daher selten schaffe, ruhig zu bleiben», sagt er. Gerade wenn er in eine Situation komme, in der er aufgeregt ist, klappe das aber nicht mehr.

Das Stottern hat Benjamin nicht davon abgehalten an der ZHdK Gamedesign zu studieren. Wie erlebt eine stotternde Person das Studium, das sehr auf Mündlichkeit ausgerichtet ist? Referate begleiten einen durch das gesamte Curriculum hindurch, mündliche Beteiligung wird als Teil des Leistungsnachweises vorausgesetzt. Auch das Knüpfen von Kontakten ist ein wesentlicher Bestandteil des Studiums. Wie bringt man das zustande, wenn man Schwierigkeiten hat, sich mündlich auszudrücken?

«Nicht mein Problem»

«Ich habe das Stottern in meinem Studium nie als Belastung empfunden», sagt Benjamin. Natürlich habe es ihm geholfen, dass sie im Studiengang eine kleine Gruppe von etwa 18 Leuten waren. Referate hätten ihm zu Beginn schon Mühe bereitet. «Ich habe darauf geachtet, dass meine Stichpunkte auf den Präsentationsfolien so klar formuliert waren, dass es mich als Sprecher gar nicht mehr unbedingt brauchte.» Mit der Zeit wurde er selstbewusster. «Ich habe aufgehört, mich über meinen Sprachfehler zu definieren.» Das bedeutete auch, dass er das Stottern nicht mehr als Problem betrachtete. Wenn man von ihm heute ein Referat verlangt, bereite ihm das kein Kopfzerbrechen mehr: «Es geht einfach viel länger als bei den anderen. Aber das ist schliesslich nicht mein Problem.»

Dieses Selbstvertrauen hatte Benjamin nicht immer. In der Primarschule wurde er gehänselt und ausgegrenzt. Freunde habe er kaum welche gehabt. Beni kapselte sich ab. Vor allem identifizierte er sich über das Stottern. «So, wie es in einer Klasse diejenige mit der Brille und denjenigen, der Fussball spielt gibt, war ich halt derjenige, der stottert.»

Erst der Besuch eines Sommerlagers, während dem er sich mit anderen Stotternden austauschen konnte, habe ihm gezeigt, dass er mehr sei als bloss ein Stotterer: «Plötzlich genügte es nicht mehr, mich als derjenige mit Sprachfehler vorzustellen. Da habe ich mir das erste Mal überlegt, wer ich denn sonst noch so bin. Und wer ich sein will.»

Überforderung auf beiden Seiten

Benjamin weiss nicht, wieso er stottert. Auch die Forschung ist sich nicht im Klaren darüber, wie Stottern ausgelöst wird. In den letzten Jahren hat man sich stark davon entfernt, darin eine psychische Erkrankung zu sehen. Stattdessen führt man das Phänomen mittlerweile auf minimale neuromotorische Koordinationsprobleme und genetische Veranlagung zurück. Die psychischen Erscheinungen des Stotterns sieht man heute als Folgeerscheinungen oder das Stottern aufrechterhaltende Faktoren und nicht als Ursache. Denn Stottern hat viel mit Unsicherheit zu tun.

«Stottern ist der ständige Versuch, nicht zu stottern», sagt Professor Wolfgang Braun, Dozent für Logopädie an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH). Die Unsicherheit gehe aber noch weiter. «Stottern kennzeichntet sich eben auch dadurch aus, dass nicht nur die davon betroffene Person, sondern auch die Kommunikationspartner davon verunsichert werden.» Viele Menschen – insbesondere auch Dozierende an Schulen und Universitäten – seien überfordert, wenn sie im Gespräch auf einen Stotterer treffen, so Braun.

Diese Erfahrung hat auch Benjamin gemacht. «Oft merke ich, dass die Leute unsicher sind, wie sie auf mein Stottern reagieren sollen. Ein Paradebeispiel ist, dass sie sich nicht getrauen zu sagen, wenn sie etwas nicht verstanden habe. Dann lachen sie oder sagen einfach ‹Okay›. Dabei habe ich ihnen eine Frage gestellt.» Er sei froh, wenn Leute nachfragen. «Ansonsten ist ja die ganze Kommunikation wertlos.»

Es sind solche Situationen, die Benjamin in seinem Alltag als unangenehm empfindet. Ein weiteres Beispiel sind Leute, die ihm die Sätze fertigsprechen, wenn er nicht sofort weiterkommt. Besonders mühsam ist das dann, wenn sie ihm die Sätze falsch zu Ende machen. «Klar bin ich manchmal froh , dass mein Gegenüber mir zu helfen versucht. Das Problem ist: Wenn jemand mal damit angefangen hat, wird er es immer öfter machen. Bis er es auch dann macht, wenn es gar nicht nötig wäre.» Das sei kontraproduktiv: «Ich komme dadurch in einen Stress und stottere nur noch stärker.»

Am meisten stört es Benjamin, wenn man betont langsam oder laut mit ihm spricht – ihn also nicht für ganz voll nimmt. «Das empfinde ich als verletzend. Wer stottert, ist deswegen nicht geistig behindert.»

Unsichtbare Beeinträchtigung

Das Perfide am Stottern ist, dass es eine auf den ersten Blick unsichtbare Beeinträchtigung ist. Anders als etwa bei Menschen im Rollstuhl sieht man einer stotternden Person ihre Beeinträchtigung nicht an. Bis sie sich dazu entscheidet, etwas zu sagen. Zu sprechen ist für Stotternde jedes Mal aufs Neue der bewusste Entscheid, die eigene Beeinträchtigung offenzulegen. Für Beni ist das Segen und Fluch zugleich. Segen, weil ihm die Unsichtbarkeit des Stotterns erlaubt, seinen Sprachfehler zu verheimlichen. Fluch, weil so das gesellschaftliche Bewusstsein für Stotternde, im Unterschied zu Blinden zum Beispiel, weitestgehend fehle. Doch eigentlich ist das Beni ganz recht. Denn auf keinen Fall will er aufgrund seiner Beeinträchtigung mit Samthandschuhen angefasst werden.

Nach dem Studium hat er sich selbständig gemacht. Mit seinem Start-up «Opinion Games» entwickelt er politische Abstimmungsspiele, die das Ziel haben, den Menschen spielerisch und neutral bei der eigenen Meinungsbildung zu helfen. Aktuell arbeitet er zusammen mit seinem Partne an einem Spiel, das später an Schulen als Lehrmittel eingesetzt werden soll. Ein stotternder Mensch hilft so jungen Menschen bei der Herausbildung ihrer politischen Stimme. ◊