Hürden, keine Barrieren
Esther fehlen seit Geburt Unterschenkel und Hände. Wie sie auf ihrer Unabhängigkeit beharrt und wie sie ihr Studium erlebt. Ein Porträt.
Esther ist 24 Jahre alt und studiert Ethnologie und Soziologie an der Universität Zürich. Die Kongolesin verbrachte ihre Kindheit in Südafrika und migrierte mit ihrer Familie im Alter von acht Jahren nach Thurgau in die Schweiz. Obwohl die Sprache dank intensivem Deutschkurs schnell gelernt war, fiel Esther der Einstieg in den Schulalltag schwer: «Ich grenzte mich bewusst ab. Ich hatte Mühe damit, mich selbst zu akzeptieren, und machte mir Gedanken, was meine Mitschüler und Mitschülerinnen von mir dachten.» Esther wurde ohne Hände und Unterschenkel geboren, das heisst, dass sie ab Kniehöhe Prothesen braucht, um laufen zu können. Ihr Anderssein stellte sie während ihrer Jugend vor vielerlei Hindernisse, wie sie erzählt. Einerseits bedeutete die körperliche Eingeschränktheit, dass alltägliche Dinge, wie Treppenlaufen oder das Öffnen einer Verpackung, ihr schwerer fielen. Aber womit Esther am meisten zu kämpfen hatte, waren andererseits Akzeptanz und Selbstvertrauen. Die Angst davor, dass man sie verurteilen und auf ihre körperliche Beeinträchtigung reduzieren könnte, hinderte sie daran aus sich herauszugehen und Anschluss bei ihren Gleichaltrigen zu finden. Zuflucht und Kraft fand Esther in dieser schweren Zeit bei ihrer Familie und in ihrem Glauben: «Meine Familie stand und steht noch immer hinter mir. Meine Eltern haben mir beigebracht, auf Gott zu vertrauen. Das hat mir geholfen und mir auch klar gemacht, dass ich die Veränderung bei mir selbst suchen muss, wenn ich will, dass es besser wird.»
Den gleichen Weg gehen – bloss anders.
Nach ihrer schwierigen Schulzeit beschloss die Thurgauerin, einen Neustart zu wagen. Sie zog aus der Ostschweiz alleine nach Zürich und schrieb sich an der Universität ein. Von der Fachstelle Studium und Behinderung der UZH erhielt Esther im ersten Semester einen Schlüssel, um den Lift nutzen zu können, ausserdem wurde sie über die behindertenfreundlichen Zugänge an den verschiedenen Lehrgebäuden informiert. Obwohl der Ethnologiestudentin klar ist, dass solche Hilfestellungen ihr den Unialltag erleichtern sollen, pocht sie auf ihre Selbstständigkeit. Esther sagt: «Ich möchte so wenig Hilfsmittel wie nötig gebrauchen. Und vor allen Dingen will ich keine Sonderbehandlung, sondern den gleichen Weg wie alle anderen gehen.» Normalität und Routine sind ihr sehr wichtig, wie Esther sagt. Dass ihr Alltag sich aber dennoch von dem ihrer meisten Mitstudierenden unterscheidet, leugnet sie nicht.
Angesprochen auf die möglichen Schwierigkeiten erklärt Esther, dass es für sie in manchen Unigebäuden tatsächlich eine Herausforderung sei, zum Hörsaal oder Seminarraum zu gelangen. Manchmal stehe kein Lift zur Verfügung, was problematisch sei, wenn sie in den dritten Stock gelangen muss. Oder beispielsweise am Irchel, wo die Vorlesungssäle durch die vielen steilen Stufen zur Hürde werden. Um von einer Veranstaltung zur nächsten zu gelangen, hat Esther einen behindertengerechten Roller, mit dem sie längere Distanzen bestreiten kann. Ihr tägliches Leben ist durchdacht und strukturiert, was ihr Sicherheit gibt.
Keine Sonderansprüche
Die Aneignung dieser Routine habe Zeit und Vorbereitung gebraucht und könne aber auch schnell durcheinandergebracht werden, erzählt Esther: «Ich überlege mir vor jedem Semester, in welchen Gebäuden ich Uni habe, und schaue, wo ich den leichtesten Zugang habe. Wenn ich noch nie in einem Gebäude gewesen bin, fahre ich manchmal in den Semesterferien hin, um mir ein Bild zu machen und so vorbereitet zu sein.» Doch Stufen sind nicht die einzigen Hindernisse, die Esther Mühe machen. Dank ihren Beinprothesen kann Esther stehen und ist selbstständig mobil, was ihr ihre wertvolle Unabhängigkeit garantiert. Gleichzeitig hat die junge Frau dadurch mit immer wiederkehrenden Entzündungen zu kämpfen, die durch die Reibung zwischen den Prothesen und ihren Beinen entstehen.
Während solcher Krankheitsperioden ist Esther auf ihren Rollstuhl angewiesen und somit auch auf eine weitere Person, die sie begleitet und den Rollstuhl stösst. Meist bedeutet das aber vor allem, dass sie zu Hause bleiben und sich schonen muss, da sie in solchen Fällen Antibiotika nimmt um den Entzündungen entgegenzuwirken. Phasen wie diese sind für Esther besonders frustrierend: «Ich langweile mich alleine zu Hause und kann nicht mal kurz etwas einkaufen gehen. In solchen Momenten bin ich mir meiner Einschränkung sehr bewusst und realisiere, dass ich dennoch nicht die gleichen Voraussetzungen habe wie andere.» Denn durch die Krankheit ist es Esther auch nicht möglich, ihre Lehrveranstaltungen zu besuchen, weshalb sie viel Stoff verpasst. Trotzdem möchte sie deswegen keine Sonderansprüche an die Dozierenden stellen, sondern verlässt sich auf ihre Freunde und Freundinnen, die ihr die Notizen und Unterlagen zukommen lassen.
Eine Quelle der Inspiration
Wer Esther kennenlernt, kommt nicht umhin sich von ihrem lauten Lachen anstecken zu lassen und von ihrer positiven Ausstrahlung fasziniert zu sein. Auf die Frage, woher sie ihre Motivation und ihr Selbstvertrauen schöpfe, erwidert Esther, dass Liebe viele ihrer Sorgen und Probleme gelöst hat. Die Liebe zu Gott spende ihr viel Zuversicht und Zufriedenheit, wie sie nochmals betont. So habe sie gelernt sich selbst zu lieben und ihren Mitmenschen offener zu begegnen: «Ich habe verstanden, dass ich mehr bin als meine Behinderung und die Persönlichkeit nicht von Äusserlichkeiten bestimmt werden muss.Ich habe in meinem Studium viele schöne Freundschaften geschlossen. Für manche bin ich ja sogar eine Quelle der Inspiration, was mir immer wieder die Bestätigung gibt, dass ich genau richtig bin, so, wie ich bin.» ◊