Probe der Faust Inszenierung am Theater Neumarkt. Noemi Ehrat

Faust- und Beinbruch

4. Mai 2017

Es «fäustelt» wieder in Zürich. Das Theater Neumarkt bringt heute Abend Goethes altbekannten Dr. Faust auf die Bühne. Während letzterer onaniert zu den Zeilen «So tauml’ ich von Begierde nach Genuss / Und im Genuss verschmacht’ ich nach Begierde», stolziert Mephisto in Pumps und Seidenstrümpfen umher. Das mutet zwar modern an, aber hat die Inszenierung auch wirklich Neues zu bieten? Ein Gespräch mit dem Regisseur Tom Schneider und dem Dramaturgen Ralf Fiedler über ihre Interpretation dieses kanonischen Werks. – Von Katharina Werner

Auf der Internetseite des Theaters Neumarkt schreiben Sie: «Passagen des Faust-Dramas lesen sich heute wie eine Parodie der modernen Informationsgesellschaft. Kaum treten Bilder und Nachrichten in Erscheinung, sind sie durch ihr Da-sein schon da gewesen, entwertet, tot.» Ist der Faust-Stoff also auch heute noch aktuell?

Schneider: Ja. Die Erzählung dieser Figur Faust hat sehr viel mit der Moderne zu tun. Faust steht stellvertretend am Beginn einer Entwicklung und greift dahin voraus, wo wir heute stehen.

Fiedler: Das Zitat «So tauml’ ich von Begierde nach Genuss / Und im Genuss verschmacht’ ich nach Begierde» ist dabei zentral. Da wird eine neue Logik freigesetzt: Dass es kein Halten mehr gibt, kein Verweilen. Das ist das Bild einer Moderne, wie sie Goethe erschreckt hat. Er hatte eine tiefe Aversion gegen die aufkommende Industriegesellschaft und vor allem die gewaltsamen Umwälzungen der Französischen Revolution. Faust ist von Goethe bewusst als Anti-Held angelegt, er treibt voran, was Goethe verabscheut.

Sie haben vom Originaltext einiges gestrichen und anderes hinzugefügt. Die Figuren Gretchen und Faust sind beispielsweise viel prominenter. Auf welche Handlungsstränge haben Sie in Ihrer Inszenierung den Fokus gelegt?

Schneider: Wir bewegen uns hauptsächlich durch Faust I. Gretchen taucht im Original ungefähr erst ab der Hälfte auf. Faust will ins «bunte Leben», quasi in die Moderne. Darauf taucht dem Plot entsprechend die erste Attraktion auf, Gretchen, die er sieht und sofort haben muss. Sobald er sie gehabt hat, darf sie wieder gehen. Schliesslich begeben wir uns schon in Faust II, allerdings in sehr reduzierter Form. Als dritten Teil haben wir einen Text von Elfriede Jelinek verwendet.

Worum geht es in dem Jelinek-Text?

Schneider: Das Stück von Elfriede Jelinek heisst «Faustin and out» und bezieht sich auf Goethes Text. Gretchen ist im Originalfaust schnell vergessen. Weiter geht es mit Faust und Gretchen bleibt als überfahrenes Reh am Wegesrand liegen. Im Text von Elfriede Jelinek wird die Gretchenfigur sehr intelligent in eine heutige Lesart und Zeit transportiert.

Wird der Autorenwechsel nicht sehr auffällig sein?

Fiedler: Klar, Jelinek benutzt ein viel moderneres Vokabular, aber sie zitiert selber sehr viel Faust und folgt einem Rhythmus, der sich überraschend gut mit Goethes Sprache verkoppelt.

Abgesehen von den Kürzungen, haben Sie das Faust-Material sonst wie verändert?

Fiedler: Wir haben nichts dazu- oder umgeschrieben. Das ist ein dermassen kanonischer Text, es wäre lächerlich, das zu unternehmen. Da gibt es viel zu entdecken.

Wieso spielt die Körperlichkeit in ihrem Stück eine so grosse Rolle?

Schneider: Das hat nicht nur was mit Faust zu tun, es ist ein Mittel, das ich sowieso benutze. Es gibt bestimmte Sachen, die man mit Sprache oder mit Text nicht erzählen, sondern viel besser über eine Körperlichkeit ausdrücken kann. Ich arbeite seit vielen Jahren sehr gern mit Tänzern, Schauspielern und Musikern, um die Spartengrenzen – falls es diesen Begriff überhaupt noch gibt – einzureissen oder aufzulösen.

Apropos Spartengrenzen: Mephisto trat in einer weiblichen Aufmachung auf. Ist das auch eine «Spartengrenze», die Sie auflösen möchten?

Schneider: Mephisto ist eine Option im Kopf vom Faust. Das ist nicht unbedingt etwas Körperliches, von dem man sagen könnte: Ah, das ist ein Mann oder eine Frau oder der Teufel. Mephisto ist eine Möglichkeit, die im Raum steht und alle Formen annehmen kann. Sie kann sich teuflisch bewegen, aber auch sexy ausschauen.

Fiedler: Ganz oft kommt im Faust das Bild des Kerkers ins Spiel, auch Gretchens Stube wird Kerker genannt. Gemeint ist immer auch die eingekerkerte Sexualität, die durch Mephisto hervorgeholt wird und bedrohliche Aspekte hat. Tanz dient als Mittel, diese Erfahrung Fausts zu verarbeiten und zu verstehen.

Lässt sich das Thema der eingekerkerten Sexualität auch bei der Fremdsteuerung Gretchens entdecken?

Schneider: Das ist zuerst einmal der Versuch, ein Bild dafür zu finden, dass da ein grosser Missbrauch stattfindet. So sind wir auf das Mittel «Puppenspiel» gekommen. Gretchen wird bespielt wie eine Puppe, deren freier Wille gar nichts zu bestimmen hat.

«FAUST» ist vom 5. Mai bis am 29. Juni im Theater Neumarkt zu sehen.