Laut «Daily Telegraph» das dritthässlichste Gebäude der Welt: Die Universitätsbilbliothek in Prishtina.

Verhinderte Elite im Kosovo

Der Universität Prishtina gelingt es nicht, das Potential des jungen Staates auszuschöpfen.

4. April 2017

Diellza sitzt mit einem Lehrbuch auf dem Schoss auf ihrem Bett. Zu ihren Füssen steht ein summender Heizlüfter, der die fehlende Heizung ersetzt, als ihre Mitbewohnerin und Schwester Era nach Hause kommt. Wütend schmeisst sie ihren Rucksack zu Boden, um ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen: «Unsere Prüfung wurde schon wieder verschoben!» Era ist Medizinstudentin im dritten Jahr an der Universität Prishtina im Kosovo. Drei Mal ist sie nun schon an die Prüfung, bloss um ohne Begründung wieder nach Hause geschickt zu werden. Das Versprechen, dass die Prüfung in ein paar Tagen nachgeholt werde, wurde bisher nicht eingelöst. Entnervt setzt sich Era nun ebenfalls auf das Bett und widmet sich ein weiteres Mal der Prüfungsvorbereitung.

Zwei Zimmer, fünf Frauen

Era lebt mit ihrer Schwester Diellza in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in der kosovarischen Hauptstadt Prishtina. Die beiden wohnen, um Geld zu sparen, mit drei weiteren jungen Frauen zusammen, die sich gemeinsam das Nebenzimmer teilen. Die Miete für die Wohnung beträgt 200 Euro, was dem durchschnittlichen Monatslohn im Kosovo entspricht. Era will Ärztin werden. Nicht nur, um später einen angesehenen Beruf ausüben zu können, sondern auch, um den finanziellen Sorgen ein Ende zu bereiten. Hierfür möchte sie jedoch eines Tages an eine ausländische Universität wechseln. Und so geht es vielen Studierenden der Universität Prishtina. Ihr Ziel ist das Ausland, und die Universität Prishtina dient dabei lediglich als Sprungbrett.

Der Kosovo, ein vom Krieg gebeuteltes Land, kämpft seit Jahrzehnten mit einer instabilen Politik und schwachen Wirtschaftslage. Seit der Unabhängigkeitserklärung von 2008, die in der Bevölkerung so viel Hoffnung geweckt hatte, geht es trotz vieler Versprechungen der Regierung nur schwer voran. Die Republik im Südosten des Balkans hat eine Arbeitslosenquote von etwa 33 Prozent und gleichzeitig die jüngste Bevölkerung Europas mit einem Altersdurchschnitt von ungefähr 27 Jahren. Eine der grössten potentiellen wirtschaftlichen Kräfte stellt somit die Jugend des Kosovos dar, doch diese sieht ihre Zukunft woanders und möchte nur eins: weg. Weg aus der Perspektivlosigkeit, Arbeitslosigkeit und Armut in ein neues, besseres Leben im Ausland. Bildung ist dabei der Schlüssel zu diesem lebenswerterem Leben. Nur scheint sie sich nicht in der Heimat finden zu lassen.

Zimmer im Studentinnenheim in Prishtina.

Zimmer im Studentinnenheim in Prishtina.

Verschwendetes Potenzial

Die Universität Prishtina, die höchste Bildungsstätte, erweckt den Anschein, als vermöge sie die potentielle Elite des Landes nicht zu fördern. Stattdessen fungiert sie als Zwischenstation, nach der es mit abgeschlossenem Bachelor für das Weiterstudium gen Westen geht.

Die Universität Prishtina wurde 1970 gegründet. Sie beheimatet 14 verschiedene Fakultäten und etwa 40’000 Studierende. Die politische Geschichte der Universität ist geprägt von ständigen Führungswechseln, Korruptionsvorwürfen und studentischen Protestläufen. Mit dem Antritt des neuen Rektors Marjan Dema, der nun seit einem Jahr im Amt ist, wuchs die allgemeine Hoffnung auf Reformen und Besserung. Dema versprach einen markanten Wandel, um der Universität zu einem höheren Bildungsniveau zu verhelfen: feste und transparente Regelungen, bessere Lehrmittel und Infrastruktur sowie kompetentes und zuverlässiges Lehrpersonal. Was aber tatsächlich umgesetzt wurde, ist mangelhaft. Noch immer beschweren sich Studierende wie Era und ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen über zu kleine Vorlesungssäle, veraltete Lehrbücher und Professoren und Professorinnen, die nicht zu den Lektionen erscheinen. Prüfungsresultate können mittels Bestechung verbessert werden, und Studiumszulassungen lassen sich durch die richtigen Beziehungen regeln.

Schöne Büros, schöne Worte

Der Versuch, Rektor Marjan Dema um ein Gespräch zu bitten, um zu diesen Vorwürfen Stellung zu nehmen, scheitert. Obwohl seine Assistentin auf Anfrage einen Termin gewährt, heisst es zum vereinbarten Zeitpunkt plötzlich, dass der Rektor keine Zeit habe. Verhandlungen um ein kurzes Statement des Mathematikprofessors bleiben erfolglos, und man wird von den Sicherheitsleuten freundlich, aber bestimmt gebeten, das Rektorat zu verlassen, nachdem sie sich nach dem Inhalt des Gesprächs erkundigt haben. Es scheint, als wolle Dema die kritische Auseinandersetzung meiden. Diese Vermutung bestätigt sich, als wenige Wochen später ein Interview mit dem Rektor im kosovarischen Staatsfernsehen erscheint, wo die Journalistin Jeta Xharra das erste Amtsjahr Marjan Demas diskutiert. Xharra scheut sich nicht, Dema mit den Beschuldigungen zu konfrontieren, dieser umgeht es jedoch, klar Stellung zu beziehen, und versucht Xharras Vorwürfe als Behauptungen abzutun. Das Gespräch der beiden erreicht einen emotionsgeladenen Höhepunkt, als Xharra Demas Professur anzweifelt und ihm unterstellt, mit bloss vier statt fünf wissenschaftlichen Publikationen, wie es die Statuten der Universität Prishtina verlangen, den Titel erlangt zu haben. Der Rektor ist über die Infragestellung der Rechtmässigkeit seiner akademischen Position sichtlich erbost und beschuldigt Xharra und die Medien, der Universität Prishtina schaden zu wollen. Dieser Überzeugung ist auch Bujar Dugolli, Dekan der Philosophischen Fakultät an der Universität. Im Gegensatz zu Dema hält er seinen Interviewtermin ein. Hierfür lädt er in sein grosszügig eingerichtetes Büro, wo er fast schon defensiv hinter seinem Schreibtisch sitzt.

Im Gespräch erklärt der Geschichtsprofessor, dass die Medien eine falsche Wahrnehmung der Universität Prishtina fördern würden. Korruption sei immer noch ein Problem, räumt Dugolli ein, aber in einem weitaus weniger alarmierenden Ausmass als von den kosovarischen Medien dargestellt. Angesprochen auf die zahlreichen politischen Verbindungen der Professoren und Professorinnen, die oftmals auch eine Position in der kosovarischen Regierung innehaben, meint Dugolli, dass die Universität stolz sei, Vertreter des Staates zum Lehrkörper zählen zu können: «Politischer Einfluss ist natürlich und nichts, wogegen man sich wehren muss. Wir sind äusserst froh um solch erfahrene Professoren und Professorinnen.»

Im Flur riecht es nach Kanalisation.

Im Flur riecht es nach Kanalisation.

Kein «Rektor der Lösungen»

Die Probleme lägen nicht beim Lehrkörper, so der Dekan, sondern bei den Studierenden, die das Studium nicht ernst nehmen und es oftmals nicht bis zum Abschluss bringen würden. Die Uni Prishtina, insbesondere das Institut für Politikwissenschaft, geniesse ein tadelloses Ansehen als beste Universität im albanischsprachigen Raum, so Dugolli weiter. Auf die Frage, weshalb sich dennoch die meisten Studierenden für Stipendien und Masterstudienplätze im Ausland bewerben würden, erwidert der Historiker ähnlich diplomatisch: «Es ist nichts falsch daran und unseren Studenten und Studentinnen nur zu wünschen, dass sie Erfahrungen im Ausland sammeln und ihren weiteren Weg an einer anderen und vielleicht auch besseren Universität bestreiten. Das hat nichts damit zu tun, dass unsere Fakultäten keine guten Masterprogramme anbieten würden.» Dugollis Antworten sind zwar wohlüberlegt, aber widersprüchlich und, ähnlich jenen Demas im Fernsehinterview, ausweichend und belehrend. Er weigert sich während des Gesprächs, die angesprochenen Missstände als solche anzusehen, und bevorzugt es, die Probleme zu leugnen.

Die drei Studentinnen Diona, Blerta und Elira können Dugollis Vorwurf bezüglich unmotivierter Studierender nicht nachvollziehen. Elira erklärt, dass sie schon immer Englisch studieren wollte und nach ihrem Studium Lehrerin im Kosovo werden möchte. Dafür gebe sie alles. Blerta und Diona, die Politikwissenschaften im zweiten Semester studieren, erzählen mit Begeisterung über all das neu Gelernte. Angesprochen auf ihre Ziele und Berufswünsche erklärt Diona: «Ich möchte nach dem Studium Journalistin für politische Berichterstattung werden. Die Chancen und Bedingungen, sich selbst zu verwirklichen, sind für uns Studierende zwar schwierig, aber davon lassen wir uns nicht entmutigen.»

Es fehlt eine fähige Alma Mater

Die Bedingungen sind tatsächlich kaum zumutbar: Ein unangenehmer Geruch nach Kanalisation empfängt einen, wenn man das Mädchenwohnheim der Philosophischen Fakultät betritt. Auch Diona, Blerta und Elira teilen sich ein Zimmer. Dieses ist spärlich möbliert mit drei Betten, einem Schrank und einem Schreibtisch. Aber für eine eigene Wohnung reicht das Geld nicht, weshalb das Studentinnenheim für 35 Euro im Monat die einfachste Lösung für die Frauen ist.

Kosovos potentieller Elite mangelt es nicht an Motivation, sondern es fehlt eine fähige Alma Mater, die sie zu einer solchen heranzieht. Rektor Dema, der sich einst als der «Rektor der Lösungen» bezeichnete, übernimmt keine Verantwortung für den Bildungsauftrag seiner Institution. Die Jugend, die grösste Hoffnungsträgerin des kosovarischen Staates, treibt es, auf der Suche nach Förderung und einer Perspektive, ins Ausland, wo sie sich in die Elite eines fremden Staates eingliedert. Ein Verlust, der den Teufelskreis der Missstände bloss weiterdreht. ◊