Der Elch unter dem Irchel
Tausende durchqueren täglich den Milchbuck. Kaum jemand weiss, dass dort auch Zeitungen aus dem Kalten Krieg, ausgestopfte Vögel und alte Feuerwehrautos lagern.
«Wenn Sie diese Kabel kappen, ist die ganze Ostschweiz lahmgelegt.» Christian Krismer zeigt auf die unscheinbaren Internet-Glasfaserkabel, die in einem niedrigen Schacht im Milchbucktunnel verlegt sind. Wir befinden uns dreissig Meter unter dem Irchelpark. Die Autos rauschen eine Betonwand weiter stadtein- und auswärts zwischen Schwamendingen und Letten. «Deshalb gibt es hier aber auch ziemlich viele Sicherheitsschleusen», sagt Krismer, Betriebsleiter des Werkhofs Urdorf. Dies sind sozusagen die Hinterzimmer seines Autobahnreichs, das sich vom Nord- über den Westring das Säuliamt und das Limmattal hinab erstreckt. Sein schwerer Schlüsselbund klimpert unentwegt, als er uns durch das Labyrinth aus Hohlräumen zwischen, über und unter den Fahrbahnen des Autotunnels führt. Fahrbahnen im plural, wohlbemerkt, denn was die Wenigsten wissen: Neben der befahrenen Milchbuckröhre fristet eine zweite, unbenutzte ihr Dasein als roher Betonausbau unter der Erde. Sie ist das Produkt der grossformatigen Planung des Autobahn-Ypsilons, das die Sihlhochstrasse und die A1 vom Sihlquai her über riesige Brücken beim Letten verbunden hätte. Als die Stadtbevölkerung merkte, was für eine gigantische Blechlawine mitten durch ihre Stadt geschleust werden sollte, regte sich Protest. Hochbrücken über HB, Sihl und Limmat wurden nie gebaut. Nur der Milchbucktunnel wurde wie ein riesiger Bypass ohne Anschluss an die Blutgefässe 1985 mit halber Kapazität eröffnet.
Spannender Hohlraum
Wir zwängen uns unter riesigen Wasserrohren durch, Krismer schleust uns von Tür zu Tür; hinter jedem Raum immer noch ein weiterer: Roher Beton, Neonröhre um Neonröhre flackert und entscheidet sich schliesslich surrend, uns ihr fahles Licht zu spenden. Um dem Tunnel nicht zu viel Gewicht zuzumuten, mussten zwischen Irchelpark und Fahrbahnen riesige Hohlräume geschaffen werden. Räume, in denen sich eine bunte Welt von Mieterinnen und Mietern versammelt hat, die sich bei konstanter Luftfeuchtigkeit, gleichmässigen Temperaturen von 18 Grad und staubfreier Luft am wohlsten fühlt. Zum Beispiel die Zentralbibliothek, die Tageszeitungen aus aller Welt und allen Zeiten hier lagert. Etwa die russische «Prawda», in der sich ein ganzes Jahrhundert sowjetischer Geschichte spiegelt. Aber auch Doktorarbeiten, Vorlesungsunterlagen oder das Bildarchiv des Tagesanzeigers lagern hier auf rund 400 Metern Länge. «Hier, in den Zwischenräumen, herrscht immer Überdruck», erklärt Krismer. Denn wenn es im Tunnel brennt, soll sich das Feuer nicht in den Schächten ausbreiten. Nicht nur den Doktorarbeiten zuliebe. Angenehmer Nebeneffekt: Krismers Angestellte müssen die Räume nur einmal im Jahr reinigen, da sich selten Staub hierhin verirrt.
Wenn es im Tunnel tatsächlich brennt, kommen die riesigen Lüftungsanlagen zum Einsatz, die wir wiederum über verwinkelte Gänge und mehrere Türen erreichen. Mit der riesigen Kraft mehreren tausend Watt wird vor allem der Rauch abgesogen, auch wenn man mit der gleichzeitig angezogenen Frischluft das Feuer anfacht, denn: Bei Tunnelbränden sterben die Menschen meist am Rauch und nicht aufgrund des Feuers, belehrt uns Krismer. Die Anlage ist im Unterhalt auch dann teuer, wenn nichts passiert. Für einen einzigen Test, der regelmässig durchgeführt werden muss, blättert das Tiefbauamt des Kantons 25'000 Franken hin. Alleine für den Strom.
Ein stummer Vogelwald und Süssgetränke
Ein Teil dieses Geldes holt der Kanton durch die Vermietungen wieder herein. Neben viel Papier finden sich hier unten auch unzählige Tiere. Hyänen stehen mit Bären und Murmeltieren hinter demselben Gitter eingeschlossen; ein Feldhase lässt sich von den zum Biss ansetzenden Schneidezähnen des benachbarten Wolfes nicht beeindrucken. Schliesslich sind alle Exemplare dieser Sammlung schon ihren Tod gestorben. Das Zoologische Museum bewahrt hier ihre ausgestopften Tiere auf, die gerade nicht ausgestellt werden – und könnte damit locker ein zweites Museum füllen. Ein ganzer Raum ist nur Vögeln vorbehalten. Zu hunderten sitzen sie im Regalwald, zwitschern aus voller Kehle stumm in den Kellerraum und spreizen die Flügel im fiktiven Flug. Eine Horrorvision à la Hitchcock gepaart mit der im Internet grassierenden Mannequin-Challenge.
Einen Raum weiter lädt uns ein Kantonspolizist auf eine Cola ein. Hans Frischknecht führt das grösste Coca-Cola-Museum der Schweiz, mit direktem Zugang zum Parkhaus Irchel. «Meine Tochter hat vor 28 Jahren angefangen, Fläschchen und Gläser zu sammeln.» Inzwischen füllt die Sammlung einen anständigen Raum mit mehreren Regalen. «Sie hat dann bald wieder aufgehört, aber mich liess es nicht mehr los», sagt Frischknecht. Etwa 1'000 Flaschen und über 1'200 Gläser hat er bisher versammelt. Einige Raritäten hätten einen Wert von bis zu 300 Franken. Und wenn der Preis stimme, verkaufe er auch einzelne Objekte. Frischknecht durfte mit seinen seltenen Stücken auch schon offizielle Anlässe von Coca-Cola Schweiz ausstatten und zeigt uns stolz Sonderanfertigungen für Firmenanlässe und über hundert Jahre alte Flaschen.
Kein Milchbuck-Club
Doch nicht nur unter dem Irchel finden sich unerwartete Schätze. Wir fahren zum Südportal beim Letten, zum breiten Ende des Tunnels, der nie einen Anschluss an eine Brücke fand. Für die hohen Leerräume suchte man schon bei der Eröffnung Verwendung. Anfangs sollte ein Club einziehen. Der Liftschacht, der die exklusive Location mit dem darüberliegenden Schindlergut verbunden hätte, wurde schon gebohrt. Doch betrunkene Clubbesucher und die benachbarte Fahrbahn waren dem Kanton dann wohl doch zu heikel, und so fand hier über Jahre das Opernhaus einen Abstellplatz. Heute warten hier historische Feuerwehrfahrzeuge auf ihren nächsten Auftritt bei der Dorfchilbi.
Auch ohne Club verirren sich immer wieder Menschen in den Tunnel, erzählt Krismer, als wir vor Südportal zur Limmat hinunterschauen. Etwa unlängst ein Velofahrer, der seinen schlechten Orientierungssinn zwar noch am Nordportal bemerkte, sich dann aber kurzerhand dafür entschied, per Sicherheitsstollen zum Letten zu fahren – wo die Polizei schon auf ihn wartete. Christian Krismer erzählt es im selben Ton, wie wenn er von seinen Innovationen erzählt, die die Tunnelreinigung erleichtert haben. Wie ein Mann, den so schnell nichts aus der Ruhe bringt. Schliesslich ist er schon seit 30 Jahren im Geschäft und hat in dieser Zeit mehrere Tunnels und Autobahnstücke mitgeplant und eröffnet, ja mit seiner Erfahrung sogar die Schaffung einer Ausbildung für seinen Job mitgeprägt. Trotzdem: Beim Milchbuck wird es persönlich, schliesslich hat Krismers Vater am Tunnel selbst mitgebaut. Ein letztes Mal klimpern die Schlüssel, als er die Türe zum Lagerraum schliesst. Der Verkehr rauscht vorbei, mit Warnlicht biegen wir aus der Nische in die Spur ein und fahren zum Autobahn-Stützpunkt zurück. Unter den Vögeln, den Büchern und Cola-Flaschen hindurch, die über uns im Dunkeln harren.