ZS 1967: Schon etwas vergilbt, aber immer noch wichtig: Hermann Burgers Essay aus dem ZS-Archiv.

«Mein Name sei Frischknecht»

15. November 2016

Aus dem Nachlass des ehemaligen Mitarbeiters der Zürcher Studierendenzeitung Hermann Burger ist kürzlich dessen erster Roman Lokalbericht erschienen. Überdies wird das Schaffen des Tausendsassas mit zwei Ausstellungen in Aarau gewürdigt.

Hermann Burger war ein Meister des Morbiden, Cigarrenaficionado und Artistikconnaisseur. Seine Romane und Erzählungen sind gleichermassen grotesk wie grössenwahnsinnig und ebenso brillant wie düster. Bemerkenswert ist aber vor allem die Art und Weise, wie Burger zeitlebens das Schreiben selbst beschrieb. Bereits 1967, also noch vor seiner ersten Prosa-Publikation, veröffentlichte der damalige Germanistikstudent einen Aufsatz in der ZS (die seinerzeit noch «Zürcher Student» hiess), der die Schwierigkeit des Schreibens angesichts der Weltliteratur zum Thema hatte. Dieser Essay kann rückblickend als programmatisch für das spätere Werk des Aargauers gelesen werden. Die Tatsache, dass alles schon gesagt ist und dass sogar schon gesagt ist, dass alles bereits gesagt ist, prägte sein Schaffen erheblich. Und zwischen Emanzipation und Verarbeitung von literarischer Tradition steht denn auch sein erster Roman, den Burger mit 28 Jahren begann, aber nie zu Ende schrieb.

Über das Schreiben schreiben

Wie früh Burger seine Thematik gefunden und mit welcher Konsequenz er sie immer wieder bearbeitet hat, macht die Publikation des Lokalberichts in aussergewöhnlicher Weise anschaulich. Der Protagonist des unvollendet und unveröffentlicht gebliebenen Romans protokolliert zu Beginn: «Mein Name sei Frischknecht.» Ebenso gut hätte Burger ihn aber auch etwa «Kellerknecht» taufen können, wie der Literaturhistoriker Peter Utz von der Uni Lausanne meint. Denn das Lokale im Lokalbericht ist eine Darstellung der Stadt Aarau, die Utz in deutlicher Anlehnung an Gottfried Kellers Seldwyla sieht. Aber die Kleinstadt (die für Burger im Übrigen durchaus mondänen Charakter hatte) ist nicht von vornherein Aarau: Frischknecht muss den Ort erst taufen, also die (literarische) Welt, in die er sich – gleich wie der Romancier Burger – mit seinem Schreiben bringen will, selbst erst begreifen. Und das tut er eben mit den Referenzen an das Kellersche Seldwyla.

Ist diese Welt der literarischen Vorväter erst einmal umrissen und der Roman des Doktoranden Frischknecht, dessen Vorname nicht zufällig Günter ist, in vollem Gang, wird sie, diesmal mit Grass' Blechtrommel, gleich wieder dekonstruiert, nämlich zersungen. Dazu steigt Frischknecht auf eines der ersten Hochhäuser Aaraus und bringt mit seiner Stimme in der Manier Oskar Mazeraths alles umliegende Glas zum Bersten. (Bezeichnenderweise beginnt dieses Gesangsmassaker bei der Stadtbibliothek, wo natürlich auch Burgers literarische Vorlagen lagern.) Am Ende dieser Singspielepisode, der nebst dem Lehrerinnenseminar auch der Kronleuchter im städtischen Theater zum Opfer fällt, bleibt nur noch Frischknecht auf seinem Hochhaus übrig, das er vorsichtshalber stehen lässt und via Fahrstuhl verlässt.

Und was tut der werdende Schriftsteller, nun da er sich über die Tradition bewusst geworden ist und sich von ihr emanzipiert hat? Er erzählt seinen Roman nach dem Muster der Geschichte des hohlen Zahns, in dem sich ein Briefkasten befand, in dem ein Brieflein war, auf dem geschrieben stand, es war einmal ein hohler Zahn. Mit viel Sarkasmus und Dutzenden weiteren Verweisen auf diverse Klassiker gelingt Hermann Burger mit dieser Technik ein Roman über einen Roman, an dessen Ende ein Literaturkritiker dem Schriftsteller Frischknecht rät, ebendiesen Roman nicht zu schreiben.

46 Jahre verschollen

Dass Burger seinen Roman dennoch geschrieben hast, ist evident. Publiziert wurde er aber vor allem deswegen nicht, weil der Student Burger derart mit seinem Lizentiat beschäftigt war, dass er keine Zeit fand, den Text zu Ende zu schreiben. Dass der Text jetzt, 46 Jahre später, endlich greifbar ist, ist das Verdienst von Simon Zumsteg, der vor zwei Jahren bereits die Burger-Werkausgabe bei Nagel & Kimche besorgt hatte. Dass es es so lange gedauert hat, ist auf zwei Gründe zurückzuführen. Erstens verlor sich das öffentliche Interesse an Hermann Burgers Werk nach dessen Selbstmord 1989 sehr schnell: «Burger hat sich, etwa im Unterschied zu Frisch und Dürrenmatt von vornherein an einen kleineren Leserkreis gewandt», erklärt Mitherausgeber Zumsteg. Und zweitens war die Erarbeitung der jetzt vorliegenden Lesefassung keine leichte Aufgabe. Es existieren unzählige Vorstufen, Umschriften und Bearbeitungen der einzelnen Textteile, deren Entstehung und Beziehungen untereinander allesamt in einer digitalen textgenetischen Edition nachvollzogen werden können. «Die wissenschaftliche Redlichkeit verlangte, dass der unveröffentlichte Lokalbericht nicht einfach dem bereits Publizierten einverleibt wurde», so Zumsteg weiter.

So ist dieser «köstliche» Text, wie ihn Simon Zumsteg kommentiert, von Burger jetzt sowohl für die Wissenschaft als auch das interessierte Lesepublikum greifbar. Ausserdem zeigen das Stadtmuseum und das Forum Schlossplatz in Aarau gleich zwei Ausstellungen, die weitere Einblicke in Burgers Leben und Werk erlauben. Und damit nicht genug: Der Burgersche Nachlass im Schweizerischen Literaturarchiv umfasst rund 250 Schachteln Material, in denen bestimmt das Eine oder Andere noch gefunden werden wird. Denn, so Zumsteg, «das mit Burgers Vergessenheit ist noch nicht gegessen». Wir hoffen es.

Hermann Burger: Lokalbericht

Hg. v. Simon Zumsteg

Edition Voldemeer (De Gruyter), 316 S.

«Lokalbericht. Hermann Burgers Romanerstling»

Stadtmuseum Aarau und Forum Schlossplatz

Bis 22. Januar 2017