Kevin Solioz

Trinken als sozialer Zwang

Unser Umgang mit Alkohol hat sich stark gewandelt. Was früher verboten war, ist heute erwünscht. Ein Essay über Prohibition, anonyme Alkoholiker und Abstinenz.

28. Oktober 2016

Alkohol ist in sämtlichen Gesellschaftsschichten bei allen möglichen Gelegenheiten nicht nur geduldet, sondern geradezu erwünscht: Ein Aperitif ohne Weisswein ist ebenso schwer denkbar wie ein festliches Nachtessen ohne einen Digestif hinterher. Vom Nachtleben schon gar nicht zu reden, das ohne die entsprechenden Getränke – und andere einschlägige Rauschmittel – nicht stattfinden würde, oder jedenfalls nicht in gewohnter Manier. Kein Wunder also, wenn wir gemeinhin recht viel trinken. Vielleicht zu viel?

Die Frage nach dem richtigen Mass, das zeigt sich sogleich, ist keine leichte. Die Antwort hängt auch vom historischen Moment ab, in dem die Frage gestellt wird: Weil der Konsum von Alkohol zu verschiedenen Zeitpunkten in der Geschichte immer wieder anders bewertet wurde. Das zeigt, dass die Spannungen zwischen Genuss und Missbrauch weit komplexeren Mechanismen als blossen medizinischen Nennwerten unterworfen sind. Ja, es könnte geradezu behauptet werden, das Verhältnis zu Alkohol widerspiegle den gesellschaftlichen Zeitgeist. Anders lassen sich die vielen Grenzverschiebungen der Vergangenheit nicht erklären – die Tatsache, dass das Verbot von Absinthe erst 2005 aufgehoben wurde, ist nur das jüngste Beispiel.

Prohibition und Abstinenz

Es liegt auf der Hand, dass unser freizügiger Umgang mit Alkohol auch traurige Folgen zeitigt. Nicht zufällig taten sich in den 1930er-Jahren Robert Smith und William Wilson, beide der Alkoholsucht verfallen, zusammen, um gemeinsam die ersten Gruppen der Anonymen Alkoholiker (AA) zu gründen und das Blaue Buch zu verfassen, das den Selbsthilfegruppen bis heute bei ihren Treffen als Leitfaden dient. Die AA wurden nämlich direkt nach dem Ende der Prohibition in den Vereinigten Staaten gegründet.

In diesem umfassenden staatlichen Verbot von Produktion, Handel und sogar Transport von Getränken mit einem Alkoholgehalt von über 0.5 Volumenprozent hatten in den USA 1920 die Anstrengungen der Abstinenzbewegungen gegipfelt.

Dass die Prohibition während der dreizehn Jahre ihrer verfassungsrechtlichen Gültigkeit die Menschen nicht zum Besseren zu führen imstande war, beweist nebst den Hunderttausenden illegalen Pinten eben die Existenz der Anonymen Alkoholiker: Die Zahl der Alkoholtoten war zwar zurückgegangen. Doch kaum war das Verbot gefallen, erlebte die Produktion von Bier, Wein und Spirituosen einen richtiggehenden Boom. Die Sucht war nicht verschwunden.

Auch in der Schweiz gab es seit der vorletzten Jahrhundertwende Bestrebungen in Richtung Prohibition – bloss weniger erfolgreiche. Aus unterschiedlichsten Gründen engagierten sich frühe Frauenbünde, sozialistische Arbeitervereinigungen und sozialreformerische Denkerinnen und Denker für eine alkohol- und überhaupt drogenfreie Gesellschaft.

Alkohol-Abstinenz wurde in jenen frühen Tagen nicht selten auch mit dem Verzicht auf Fleisch verbunden: So erstaunt es nicht, dass das selbsternannte erste vegetarische Restaurant überhaupt, das von Ambrosius Hiltl geführte «Vegetarierheim und Abstinenz-Café», keinen Alkohol ausschenkte.

So rudimentär dieser historische Rückblick sein mag, er illustriert doch, wie schnell sich die moralische Bewertung von Alkohol verändern kann. Auch unsere heutigen Gewohnheiten könnten also morgen schon wieder andere sein.

Die Frage nach dem richtigen Mass

Aber zurück zur Frage nach dem richtigen Mass im Hier und Jetzt: Die Anonymen Alkoholiker betreiben hierzulande rund 170 von weltweit über 100'000 Gruppen. Von einer der grössten Selbsthilfeorganisationen überhaupt dürfte man sich eine Auskunft über das richtige Mass durchaus erhoffen. Die Antworten bleiben aber vage: Im Blauen Buch wird Alkoholismus beschrieben als Krankheit, mit der die «Vernichtung» aller Dinge einhergehe, «die das Leben ausmachen».

Nun, diese zugespitzte Darstellung dürfte auf die Realität der meisten unter uns kaum zutreffen. Im Gegenteil: Alkohol macht locker und erleichtert damit manche Gesprächssituation. Dies verschönert das Leben und vernichtet es nicht.

Erstaunlich ist aber, wie rigide der heutige Umgang mit Alkohol geregelt wird, insbesondere in unserer ansonsten durch und durch liberalen und individualistischen Gesellschaft. Trinken ist zum sozialen Zwang geworden. Das Bundesamt für Gesundheit hat sich letztes Jahr in einer Publikation dazu genötigt gesehen, zu vermerken: «Es gibt Menschen, die trinken aus persönlichen, religiösen oder gesundheitlichen Gründen keinen Alkohol. Dies soll respektiert und unterstützt werden.»

Trotzdem trinken

Was banal klingt, kommt nicht von ungefähr, erntet doch mehr Spott als Zuspruch, wer zum Beispiel in gemütlicher Runde unter Freunden einen Softdrink dem Bier vorzieht. Und schon stellt sich die Situation als eine verzwickte heraus: Will man dem Alkohol abschwören, sieht man sich vor eine paradoxe Wahl gestellt. Entweder kann man an der WG-Party oder dem Geburtstagsessen der nüchterne Sonderling sein, der in den Augen der Anderen am allgemeinen Spass keinen Anteil hat. Ja, gar schnell fühlen sich die Trinkenden in ihrer hedonistischen Lebensweise angegriffen von der vermeintlichen moralischen Überlegenheit des Gegenübers.

Oder man bleibt solcherlei Anlässen grundsätzlich fern und macht sich so ebenfalls zum Sonderling. Trotzdem trinken ist der einfachste Ausweg aus dem Dilemma. Man lässt sich am Ende doch zum dem überreden, von dem man eigentlich die Finger hätte lassen wollen. Denn eigentliches Suchtpotenzial hat nicht der Stoff an sich, sondern die soziale Teilhabe: Dazugehören ist heute die Hauptsache, nicht moralische, gesundheitliche oder ideologische Richtigkeit. Auch wenn es oft zu viel wird. ◊