Kevin Solioz

Studieren auf Heroin

Sie ist jung, sie geht an die Uni, sie arbeitet. Und sie konsumiert täglich harte Drogen. Wie geht das?

28. Oktober 2016

Die Vorlesung ging vor einer Viertelstunde zu Ende, und Chiara* hat die Nadel bereits im Arm. Zehn Milligramm flüssiges, durchsichtiges Heroin. Sie sticht sich mit der braunen, der feinsten aller Nadeln in die Ellenbeuge. Durch leichtes Zurückziehen des Spritzenstempels tritt ein Schwall dunkelrotes Blut in die Spritze. Der Beweis, dass die Kanüle am richtigen Ort sitzt. Im Gegensatz zu den meisten Anderen im Raum sind Chiaras Venen noch gut, sie trifft praktisch immer.

Chiara steht kurz vor dem Abschluss ihres anspruchsvollen Studiums. Eine ganz unspektakuläre Studentin, wie sich die Zürcherin selber beschreibt: Neben dem Studium arbeitet sie im Büro, und nachdem sie abends zu ihrem Freund in die gemeinsame Wohnung gekommen ist, geht sie oft nochmals raus um zu joggen. Fehlt noch ein Labrador, und das Klischee der gewöhnlichen Mittelstandsbürgerin wäre perfekt.

Doch auf dem Weg zwischen Arbeit und Zuhause verbirgt sich ein Geheimnis, das die idyllische Szenerie durcheinanderbringt. Jeden Tag besucht Chiara ein Zentrum für Suchtmedizin. Sie ist in einem Substitutionsprogramm, das ihr erlaubt, täglich kontrolliert Heroin zu beziehen. Sie ist heroinabhängig seit sie 15 Jahre alt ist. Ein Geheimnis, von dem sie ausser ihrer Familie und ihrem Freund noch niemandem erzählt hat.

Ein anderes Leben

Begonnen hat alles im Gymnasium. «Mit Kiffen, Alkohol und Partydrogen fing ich an, als ich 14 Jahre alt war. Ecstasy während der Schule ging ganz gut, doch als ein Jahr später Heroin und Kokain hinzukamen, ging es abwärts», meint Chiara unaufgeregt. Sie flog von der Schule, verlor ihre Freundinnen und Freunde, und ihr Alltag bestand bald nur noch daraus, Geld und Stoff zu besorgen. «Wenn man für seine Sucht jeden Tag etliche hundert Franken auftreiben muss, gibt es keine Zeit für Anderes mehr.»

Wenn Chiara dies erzählt, hat man das Gefühl, sie spreche von einem anderen Menschen. Berichtet sie von ihrer Vergangenheit, holt sie nicht weit aus. «Schwierig» und «unangenehm» sind Adjektive, die sie im Zusammenhang mit ihrem früheren Leben oft verwendet. Chiaras damalige Zeit ist schwer vorstellbar. Es scheint, als hätte sie die Geschichten weit weg von sich vergraben können und ist nun froh, nicht mehr darin wühlen zu müssen.

Heute führt Chiara nämlich ein ganz anderes Leben. Vor drei Jahren hat sie aufgehört zu rauchen, allen anderen Substanzen hatte sie schon viel früher den Rücken gekehrt. Ausser dem Heroin. Doch dieses beeinträchtigt ihren Alltag nicht mehr, abgesehen davon, dass sie einmal täglich etwa zehn Minuten für ihren Konsum einberechnen muss. Auch in Gedanken ist Chiara kaum mehr beim Heroin. Sollte sie es mal nicht mehr zur Abgabestelle schaffen, kann sie auf Methadontabletten zurückgreifen, um nicht auf den Entzug zu kommen. «Heute ist Heroin für mich wie ein Medikament, das ich täglich einnehmen muss. Einen Rausch spüre ich schon lange nicht mehr, es macht mich bloss etwas müde.»

Die Droge hat eine kurz anhaltende und kaum wahrnehmbare Wirkung. Nach dem Schuss im Injektionsraum diskutiert Chiara mit anderen Bezügern weiter wie bisher, auffallen tun nur ihre schwer gewordenen Lider, das zeitlupenhafte Blinzeln. Spätestens nach einer Stunde sind auch die Augen wieder wach.

Das Versteckspiel

Aus Angst, dass man ihr trotzdem etwas anmerken könnte, geht Chiara nach dem Spritzen nicht mehr in Vorlesungen oder zur Arbeit. Zu unberechenbar sind die Folgen, die eintreten, würde sie dort auffliegen.

Das Versteckspiel ist das einzige, was ihre Sucht noch wirklich zur Last macht. «Ich habe ständig Angst, dass mich jemand sehen könnte, wenn ich aus dem Programm komme. Wenn mich im Tram oder auf der Strasse eine andere Konsumentin anspricht, muss ich sie immer sofort abblocken oder ignorieren, um mich nicht zu outen.» Wäre das Heroin legal und anerkannt in der Gesellschaft, so könnte Chiara zu ihrer Sucht stehen, ohne um ihre Arbeit und ihr soziales Umfeld fürchten zu müssen.

Doch ein weiterer Aspekt hindert sie daran, reinen Tisch zu machen. «Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, weshalb ich mit Heroin begonnen habe», stellt sie etwas beschämt fest. «Wenn man sich selber so kaputt macht, dann erwarten die Leute immer, dass es einen vernünftigen Grund dafür gibt.» Viele Abhängige haben eine schlimme Zeit hinter sich. Sie können erklären, dass sie eine traurige Kindheit gehabt haben, dass Heroin ein Trost für das erlebte Leid war. Chiara litt nicht. Ihre Eltern kümmerten sich fürsorglich um sie, sie war stets gut in der Schule und sportlich noch dazu. «Ich habe es nur gemacht, weil es cool war. Schon damals wusste jedes Kind, wie stark abhängig Heroin machen kann. Mir war das egal. Auch die etlichen Entzugstherapien haben bei mir nicht gefruchtet. Ich wollte nur rebellieren. Gegen meine Eltern, den Staat und alle, die das Gefühl hatten, sie wüssten, was das Beste für mich sei.»

Nicht wie zu Platzspitzzeiten

Dass sie heute ihr Leben wieder so gut im Griff hat, schreibt Chiara vor allem ihren Eltern und dem Substitutionsprogramm zu. Erstere investierten enorm viel, um sie von den Drogen wegzubringen. Dazu hat sie den Vorteil genossen, wieder ins Gymnasium einsteigen zu können und so doch noch Matur zu machen. «Viele der Leute, die zu Platzspitzzeiten aufgewachsen sind, haben nicht einmal einen Sekundarabschluss. Da ist es umso schwieriger, später den Einstieg in die Arbeitswelt zu schaffen. Zudem hatte ich Glück, gleich mit 18 in die Substitution eintreten zu können. Früher gab es das noch nicht. Wenn du zu lange auf der Gasse warst, ist der Zug irgendwann abgefahren», sagt Chiara.

In absehbarer Zeit will Chiara ganz von den Drogen wegkommen. Nicht, weil sie sich als Junky sieht. Sondern weil sie sich fürchtet, als Junky gesehen zu werden. Das ist sie aber heute mitnichten mehr. Nur liegt in ihrer täglich benötigten Substanz ein Geheimnis, das sie Job und Umfeld kosten könnte.

* Name geändert