Hannah Schrohe

Mein Freund Reza

Zwei Männer leben zusammen in einer WG. Der eine ist aus dem Iran geflüchtet, der andere kommt aus Bonstetten. Das Projekt Wegeleben hat sie zusammengeführt.

28. Oktober 2016

Ich gebe es zu: Ich liebe meinen Flüchtling. Er ist aber freilich nicht «mein Flüchtling», und ich nenne ihn auch nicht gerne einen Flüchtling. Denn für mich ist er ein Spitzenkoch, ein disziplinierter Arbeiter und ein Sprachgenie. Vor allem aber ist er ein Mensch mit einem Namen, der sich nicht einfach hinter einer demographischen Statistik verstecken lässt. Gestatten, mein Freund und Mitbewohner: Reza.

Schuften und Sparen

Reza ist, wie ich, 22 Jahre alt und absolviert eine Lehre zum Logistiker in einer grossen Filiale der Landi. Er ist afghanischer Abstammung und aus dem Iran geflüchtet. Aber eigentlich ist er durch und durch schweizerisch: Wenn ich morgens aufstehe, ist Reza schon zur Arbeit gegangen. Wenn ich abends bereits gegessen und den Haushalt gemacht habe, kommt Reza erst nach Hause. Und sonntags, wenn ich mich gegen Mittag, von Kopfschmerzen geplagt, aufraffe, steht ein Krug frischgebrauter Tee auf dem Tisch. Reza ist dann bereits auf dem Fussballplatz. Manchmal frage ich mich, wer von uns jetzt eigentlich besser in die hiesige Gesellschaft integriert ist, in der man sich ja besonders durch Leistung hervortut.

Wenn ich Reza über seine Zukunftspläne ausfrage, antwortet er sehr bestimmt: Eigentumswohnung, bescheidenes Auto, eigenes Geschäft. Zuerst kommt aber der Lehrabschluss. Dann heisst es: Schuften und Sparen.

Tatendrang und Hilfsbereitschaft

An eine Rückkehr in den Iran denkt Reza gar nicht. Er lebt seit vier Jahren hier und scheint eine neue Heimat gefunden zu haben. In der Schweiz hat Reza Perspektiven, und er gibt sich die grösste Mühe, diese zu nutzen und dafür auch etwas zurückzugeben. Im Iran war Reza als Angehöriger einer Minderheit nämlich vom Alltag ausgeschlossen; für ihn sind Privilegien nicht selbstverständlich.

Aber nicht nur Rezas Tatendrang beeindruckt mich ungeheuer. Es sind vielmehr solche Momente wie an jenem Septemberabend, die mich ihn als Person schätzen lassen: Ich war ziemlich übel gelaunt, Reza kam nach Hause, abgerackert wie immer. Er bemerkte, wie es mir ging, bevor ich auch nur ein Wort sagen konnte. «Das geht so nicht», tadelte er. «Du musst aus dem Haus. Komm mit!» Dann packte er mich, und es hätte gar keinen Wert gehabt, mich zu wehren.

Wir verbrachten den Abend dann auf dem Schwamendingerplatz. Reza kaufte im Coop immer wieder Biernachschub, bis ich zufrieden lallte. Während wir so auf der Bank sassen, hörte Reza mir zu, brachte mir ein bisschen Persisch bei und machte Faxen, bis ich gar nicht mehr anders konnte, als gutgelaunt mitzumachen. Das kann Reza nämlich gut: die Probleme seiner Mitmenschen erkennen und ihnen dabei helfen, sie zu lösen.

Schwierige Wohnungssuche

Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal mit einem Flüchtling zusammenleben würde. Nicht, weil ich da Vorurteile hätte, es kam mir einfach nie in den Sinn. Ursprünglich dachte ich, ich würde mit Freunden zusammen eine neue WG gründen.

Stattdessen zog ich in eine leere Wohnung des Jugendwohnnetzes (JuWo). Damit ich nicht alleine blieb, schrieb das JuWo einen Besichtigungstermin aus. Eine Woche später stand eine Mitarbeiterin des JuWo zusammen mit Reza vor meiner Tür. Sie erklärte, dass Reza ein Flüchtling sei und deshalb Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche habe. Sie würde ihm den Vorrang für das Zimmer lassen, falls ich damit einverstanden sei. Ich stimmte zu.

Das Jugendwohnnetz arbeitet mit dem Projekt Wegeleben zusammen. Dieses will geflüchtete Menschen mit bestehenden oder neugegründeten WGs zusammenbringen. Also Reza und mich, zum Beispiel. Auch nach einer geglückten Vermittlung bleibt Wegeleben Ansprechpartnerin für die WGs; man würde also auch uns helfen, mit der neuen Wohnsituation zurechtzukommen. Wenn wir denn Probleme hätten.

Ich denke manchmal, dass dieser Deal, der Reza und mich zusammengebracht hat, vielleicht nicht ganz fair war. Zumal doch eine Menge Leute zur Besichtigung erschienen waren. Bereut habe ich es dennoch nicht. Reza war nämlich der Einzige an jenem Tag, der es fertigbrachte, mit mir ein Gespräch zu führen; mehr zu sagen als: «Schönes Wetter heute, was?»

Wie eine Familie

Und jetzt, mehr als vier Monate später? Ich bereue es immer noch nicht. Im Gegenteil, ich bin sehr zufrieden darüber: Ich durfte zusammen mit Reza ein gemeinsames Zuhause aufbauen, in dem man auch schlechte Tage haben darf. Wir kochen zusammen – oder lachen uns auch mal gegenseitig aus, wenn wir ein Wort auf Deutsch oder Persisch kreuzverkehrt aussprechen. Kurz: Wir haben ein Zuhause aufgebaut, wo wir eine Familie sein können.

Reza ist kein Flüchtling. Er ist ein Mensch, ein geflüchteter Mensch. Wäre ein anderer geflüchteter Mensch bei mir eingezogen, wer weiss, wie gut ich mich mit ihm verstanden hätte. Wäre ein anderer Mensch, einer ohne Fluchtgeschichte, eingezogen, hätte es genauso schief gehen können. Reza pflegt zu sagen: «Kein Mensch ist schwarz oder weiss, sie sind nur alle ein anderes Grau.» Es ist ein Glück, dass Rezas und mein Grau so gut zusammenpassen. ◊

Mehr Infos zum Projekt Wegeleben auf www.wegeleben.ch