Professor Lutz Jäncke steht auf seine Retinadisplays. Oliver Camenzind

Über Apple und andere Versuchungen

27. September 2016

Neurowissenschaftler Lutz Jäncke erklärt, wieso iPads nicht dumm machen und wie wir am meisten aus unserem Hirn holen.

Wie viel Zeit verbringen Sie täglich damit, auf Bildschirme zu schauen?

Ich schätze 12 bis 14 Stunden? Ja, ziemlich viel. Ich sitze ja nur vor diesen Dingern.

Finden Sie, das ist zu viel?

Manchmal ja, aber nicht immer. Ich lese unheimlich viel, mittlerweile auch mehr auf Bildschirmen. Auf dem iPad beispielsweise lese ich immer meine Klassiker. Da kann ich dann den Bildschirm schön hell und die Zeichen grösser machen. Das entspannt mich beim Lesen deutlich mehr als ein Buch in der Hand zu haben.

Davon gehen doch die Augen kaputt.

Das ist Quatsch. Vorausgesetzt, Sie haben einen guten Bildschirm. Die alten Computerbildschirme flackerten deutlich mehr als die neuen. Das war nicht gut. Beim modernen Laptop ist es nicht mehr ganz so schlimm. Ein Retina Display beispielsweise ist wirklich unschlagbar.

Und ohne Retina Display?

Geht auch. Die Apple-Bildschirme finde ich einfach cool. Ich bin begeistert von der Qualität! Ich habe gerade meinen Bildschirm mit gestochen scharfen Gehirnbildern vor mir. Das ist der Wahnsinn.

Hat das ständige Starren auf Bildschrime Auswirkungen auf unser Gehirn?

Alles, was Sie häufig tun, hat Auswirkungen auf das Gehirn. Ob es negative Folgen hat, da bin ich mir nicht sicher.

Sollte man Kleinkinder mit iPads spielen lassen?

Das werden sie eh irgendwann machen. Ich sehe prinzipiell kein Problem in der Nutzung digitaler Medien, sondern eher in der Art und Weise, wie man diese Medien nutzt. Das wäre ungefähr so, als wenn man sagen würde, Essen macht dick, also esse ich nicht mehr. Sie müssen lernen, das Richtige zu essen. Ähnlich sollten Sie auch mit dem iPad und anderen Geräten umgehen.

In Ihrer Vorlesung empfehlen Sie Apps wie 3D Brain, eine App, in der man sich die Anatomie des Gehirns dreidimensional und vielschichtig anschauen kann.

Zum Beispiel. Früher haben wir in der Hirnanatomie noch echte Gehirne seziert. Zu Beginn des Sommersemesters arbeiteten wir an ganzen Gehirnen, am Ende des Semesters sahen die aus wie Zürcher Geschnetzeltes.

Macht es einen Unterschied, ob man am Bildschirm oder mit Skalpell seziert?

Das Digitale sollte man zusätzlich machen. Das bringt einen ganz neuen Erkenntnisgewinn. Früher hätte man zum Beispiel nie darüber nachgedacht, dass Gehirne verschiedener Personen unterschiedlich sein könnten. Aber weil jetzt so viele Gehirne digitalisiert sind, kann man diese analysieren und erkennen, wie unterschiedlich sie tatsächlich sind. Locker, lässig am iPad.

Nehmen wir ein anderes Beispiel. Das Musizieren mit Apps wie GarageBand und das Musizieren mit echten Instrumenten: Bringt das dieselben Vorteile fürs Gehirn?

Ich glaube, dass virtuelles Musizieren in die Nähe dessen kommt, was mit realem Spiel zu tun hat. Die mit echten Instrumenten erworbenen Fähigkeiten kann man jedenfalls mittels digitaler Medien abrufen. Wir bringen also etwas Reales in die virtuelle Welt. Ich bin auch davon überzeugt, dass unser Gehirn in der Lage ist, imaginäre Welten zu erschaffen, die täuschend real wirken. So wie in der Matrix.

Keine schöne Vorstellung.

Das ist natürlich Science-Fiction, aber ich könnte mir gut vorstellen, dass ein erwachsenes Gehirn irgendwann mal ohne Körper existieren könnte, vorausgesetzt, es hat genügend Informationen aus der realen Welt gespeichert. Diese wären dann abrufbar und könnten ein Bewusstsein über das Leben in einer realen Welt generieren.

Apropos Matrix. Glauben Sie an die Theorie, dass wir in einer Simulation leben?

Nein. Möglich wäre es aber. Jeder schafft sich ja seine eigene individuelle Realität. Wir glauben, vernünftig zu sein, selbst wenn wir objektiv Unsinniges machen. Wir sind immer der Meinung, in der richtigen Realität zu leben. Wir verurteilen teilweise Menschen aus anderen Kulturen, ohne zu berücksichtigen, dass sie anders aufgewachsen sind als wir. Das ist typisch Mensch und liegt daran, dass unser unglaublich lernfähiges Gehirn dafür geschaffen wurde, sich in verschiedene Kulturen hineinzulernen. Das ist eine bemerkenswerte Fähigkeit, die aber auch viele Probleme mit sich bringt.

Glauben Sie, Ihre Studierenden befinden sich in der Realität Ihrer Vorlesung? Oder sind die auf Social Media?

Also, ich mache mir da gar keine grossen Illusionen, ich glaube, der grösste Teil surft und macht andere Sachen. Ich kriege ja auch mit, dass meine Äusserungen quasi zeitgleich mit Wikipedia, Google und der Online-Literatur abgeglichen werden.

War früher alles besser im Studium?

Ich bin kein Nostalgiker, der meint, früher sei alles besser gewesen. Wir sassen früher mit unserem Schreiber in der Vorlesung, vor uns ein DIN-A4-Blatt, und haben wie die Wahnsinnigen geschrieben, während der Professor an die Tafel malte. Wir konnten kaum atmen. Nach 45 Minuten hatten wir wunde Finger. Unsere handgeschriebenen Mitschriften haben wir dann ordnerweise sortiert, gesammelt und untereinander ausgetauscht. Dann wurden Schreibmaschinen-Tipp-Gruppen gebildet, die diese Handschriften zusammenfassten. Heute ist das nicht mehr so. Meine Studierenden werden schon nervös, wenn die Vorlesungsfolien, die man sich mit grosser Mühe zusammengebastelt hat, nicht perfekt einen Tag vor der Vorlesung in hervorragender Qualität herunterladbar sind. Das ist eine ganz andere Konsumhaltung. Das heutige Studieren bietet durch die modernen Medien mehr Möglichkeiten zum Wissenserwerb. Der Nachteil ist, dass man durch die vielen Informationen leichter abgelenkt und das Wesentliche aus den Augen verlieren kann.

Also sind Sie froh, dass Sie jetzt nicht Student sein müssen, sondern Professor sein dürfen?

Manchmal. Ich bin mir nicht sicher. Ich spreche hier ja über mein Leben und meine Vergangenheit. Ich sehe grosse Vorteile im heutigen Lernalltag. Der Nachteil ist, dass gelegentlich der Tiefgang und die Musse fehlen. Die Studierenden kommen nicht mehr dazu, sich selbst etwas zu überlegen und sich selbst forschend auf den Weg zu machen. Heute wird auf Teufel komm raus konsumiert, und das teilweise oberflächlich. Man weiss die Information nicht zu schätzen, die man gerade geniesst, weil man den Eindruck hat, es sei einfach zu viel von allem da.

Die Fähigkeit des Gehirns zum Multitasking wird ja heutzutage oft positiv bewertet. Was sagen Sie dazu? Können wir als junge Generation besser multitasken als die Generation vor uns?

Der Homo sapiens ist grundsätzlich kein Multitasker. Wir sind nicht als solche evolutioniert. Das Wesen des Menschen besteht darin, aus der Menge der Informationen das Wesentliche auszuwählen und unnötige Distraktoren zu unterdrücken. Die jungen Menschen heutzutage lernen kaum mehr, Distraktoren zu unterdrücken. Sie lernen eher, ihnen nachzugeben. Sie können sich heutzutage auf dem iPhone Game of Thrones rauf und runter in hoher Qualität und jederzeit anschauen. Wir haben früher vier Wochen lang auf eine Karte für Ben Hur gewartet. Sie würden in dem Film keine drei Sekunden ausharren, sondern schon zum nächsten Reiz springen, und dann zum Übernächsten. Das ist ein Problem.

Und was kann man dagegen machen?

Sie müssen sich zwingen, den aktuell anliegenden und angenehmen Reizen nicht sofort nachzugeben. Der Frontalkortex ist verantwortlich für das Unterdrücken des Irrelevanten und für die Selbstkontrolle. Dieses Hirngebiet muss man durch Belohnungsverzögerung trainieren.

Können Sie mir ein praktisches Beispiel nennen?

Sie haben morgen eine Griechisch-Klausur. Sie sitzen in Ihrem Zimmerchen und lernen intensiv. Plötzlich klopft es an der Tür. Da steht Ihr Freund, den Sie seit Wochen nicht gesehen haben. Was machen Sie?

Ich lerne natürlich weiter für die Klausur.

Was passiert in dem Moment? Sie entscheiden sich gegen eine Belohnung, zugunsten einer Tätigkeit, von der Sie noch nicht einmal wissen, ob dafür später eine Belohnung überhaupt zur Verfügung steht. Das ist jetzt ein Alltagsbeispiel. Aber als Studentin bewegen Sie sich schon in einer anderen Liga. Sie haben Ihren Frontalkortex bereits trainiert. Deswegen studieren Sie ja und stimulieren nicht von morgens bis abends Ihr Lustzentrum.

Was, wenn doch? Kann man den Frontalkortex im Erwachsenenalter noch trainieren?

Man kann. Das Gehirn ist trainierbar. Bis an das Ende des Lebens, bis circa 20 Minuten, bevor wir das Zeitliche segnen. Es dauert nämlich ungefähr 20 Minuten, bis sich die ersten neuronalen Netzwerke anatomisch und funktionell anpassen.

Was würden Sie den Studierenden raten: Wie holen wir das meiste aus unserem Hirn?

Erstens: Lernen Sie, sich über einen längeren Zeitraum konzentriert mit einer Sache auseinanderzusetzten. Sie müssen Ihrem Gehirn aber auch mal freien Lauf lassen. Das bedeutet nicht, sich mit irgendwelchen Spielen vollzudröhnen, sondern sich Ruhe und Schlaf zu gönnen oder sich mit ästhetisch interessanten Dingen auseinanderzusetzen.

Zweitens: Trainieren Sie Ihre kreative Denkweise. Unser Gehirn ist ein Interpretationsorgan. Wenden Sie das Gelernte kreativ an. Nicht einfach repetitiv alles nachmachen. Wenn Sie Psychologie studieren, dann versuchen Sie Alltagsphänomene zu erklären.

Drittens: Lernen Sie, sich sprachlich mit den Sachen auseinanderzusetzen. Formulieren Sie die Probleme und Informationen zumindest geistig. Wenn Sie Zeit haben, schreiben Sie es nieder.

Weil man Informationen besser aufnimmt, wenn man sie mit dem Stift schreibt, als wenn man mit den Tasten tippt?

Ja, es hat nicht denselben Lerneffekt. Das ist auch wissenschaftlich belegt. Wenn Sie mit der rechten Hand schreiben, dann wird der Stift vom linksseitigen sensomotorischen Kortex kontrolliert. Beim Rechtshänder befindet sich auf der linken Hemisphäre auch das Sprachzentrum. Die Motorik ist so also sehr eng an die Sprachzentren gekoppelt und es müssen keine Kreuzungen auf die andere Hemisphäre durchgeführt werden. Tippen Sie aber bimanual in den Computer ein, müssen Ihre beiden Hände erst koordiniert werden. Sie haben den rechten und linken sensomotorischen Kortex aktiv. Die Sprachareale müssen immer wieder mit den kontralateralen Hirngebieten kommunizieren. Das führt zu einer erhöhten Konzentration auf die motorische Kontrolle und einer grösseren Fehleranfälligkeit.

Den hektisch vor sich hin tippenden Studenten in Ihrer Vorlesung würden Sie also raten, einen Stift und ein Blatt Papier zur Hand zu nehmen?

Ja, in der Tat. Das sage ich auch oft. Ich schreibe selbst viel von Hand. Ich habe immer ein Heft und meinen Füller dabei. Dabei nutze ich bewusst den Füller. Er ist schöner als billige Schreiber und durch die Tinte sieht man das Geschriebene klarer. Man bekommt einen ästhetischen Eindruck, nimmt sich Zeit und schmiert das Geschriebene nicht einfach so hin.

Zum Lesen nehmen Sie dann aber doch lieber den Bildschirm zur Hand?

Auf Reisen und wenn ich keine Lesebrille aufziehen will. Aber ich bin Dual-Leser, könnte man sagen. Am Strand beispielsweise lese ich nur Kriminalromane und dann immer auf Papier. ◊